Michelle konnte nur stumm nicken. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn in ihrem Kopf. Was machst du jetzt? Sie ist deine Chefin!
Gina gluckste leise neben ihr, sodass Michelle sie irritiert ansah. Doch Gina wischte sich schnell das Grinsen aus dem Gesicht.
In diesem Moment drehte Danela Vargas den Kopf und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen. Über Michelle sah sie teilnahmslos hinweg.
»Sie erkennt mich wirklich nicht«, flüsterte Michelle Gina ins Ohr.
»Oh, Michelle.« Gina seufzte leise auf. »Du bist echt ein Neuling bei diesem Spiel. Es wird Zeit, dass ich dir da ein paar Dinge erkläre.«
»Was denn für ein Spiel?« Michelle sah wieder nach vorn, wo die neue Chefin sich in ihr Büro zurückzog.
An der Tür drehte sie sich noch einmal um, und dieses Mal suchte und fand sie Michelles Augen. Für einen kurzen Moment hielten sie Kontakt, und Michelle spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss.
»Hast du das gesehen?« Mit schnellen Schritten lief sie Gina hinterher, die zu ihrem Schreibtisch zurückging.
»Was soll ich gesehen haben?« Gina setzte sich und sah sie von unten her an.
»Sie hat mich angesehen, sie hat mich doch erkannt, da bin ich sicher.« Michelle ließ sich in ihren Stuhl fallen und wirbelte damit zu Gina herum. »Was denkst du, sollte ich mit ihr reden?«
»Um was zu erreichen?« Gina zog wieder einmal ihre Augenbraue nach oben. »Was, denkst du, wird sie tun?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht erklären, warum sie mich dort oben auf dem Dach alleingelassen hat?« Michelle blickte zu der geschlossenen Tür und stellte sich vor, wie Danela hinter ihrem Schreibtisch saß und sie voller Begehren ansah. »Danela. Ein schöner Name, oder?«
»Wach auf, Michelle!« Gina schnipste mit zwei Fingern vor ihrem Gesicht herum und riss Michelle aus ihren Gedanken. »Sie ist deine Chefin. Ihr hattet einen One-Night-Stand, und das war es auch schon. Sie wird dir nichts erklären, und du wirst sie nichts fragen, es sei denn, du willst dir die Kündigung abholen.«
»Aber . . .« Betrübt sah Michelle ihre Freundin an. »Warum sagst du so was? Ich habe doch gar nichts getan, oder?«
»Ach, Michelle. Was erwartest du von ihr?« Gina seufzte. »Soll sie dir um den Hals fallen, weil ihr beide in derselben Firma arbeitet?« Sie schüttelte den Kopf. »Das Gegenteil wird der Fall sein. Denn es ändert nichts an der Tatsache, dass sie nur an schnellem Sex interessiert war. Sonst wäre sie bei dir geblieben, und ihr hättet wenigstens Namen und Telefonnummern ausgetauscht, oder nicht?«
Als Michelle resigniert das Kinn auf ihre Brust sinken ließ, legte Gina eine Hand auf ihre Schulter. »Ich habe dir schon gesagt, es ist ein Spiel. Für den einen mehr als für den anderen. Gewinnen kann dabei nur, wer sich auf die Regeln einlässt. Und das bedeutet: keine Verpflichtungen, keine Gefühle, einfach nur Befriedigung der Lust.«
»Ich kann das nicht glauben.« Michelle schüttelte trotzig den Kopf. »Ich bin nicht so.« Erneut sah sie zu der geschlossenen Tür. »Und sie ist auch nicht so.«
»Woher willst du das wissen?« Gina rollte die Augen. »Du wünschst dir, dass sie nicht so ist. Aber du musst der Realität ins Auge sehen.« Sie zwinkerte Michelle zu. »Sei nicht enttäuscht. Nicht jede ist für dieses Spiel geschaffen.« Nun lächelte sie Michelle tröstend an.
»Und du? Bist du dafür geschaffen? Spielst du auch?« Mit zusammengekniffenen Augen sah Michelle Gina an.
»Kommt drauf an.« Überlegend wiegte Gina den Kopf hin und her. »Ich bin nicht mehr ganz die Romantikerin, die ich einmal war.« Sie lächelte leicht. »Die du aber immer noch bist.«
»Das klingt bitter«, fand Michelle. Und bitter wollte sie nicht sein.
»Nun ja.« Gina atmete einmal tief durch. »Es gab eine Zeit, da habe ich nach der großen Liebe gesucht. Doch nach etlichen Enttäuschungen habe ich die Suche aufgegeben. Aber Bedürfnisse habe ich trotzdem, daher – ja, ich bin auch im Spiel. Die Szene ist voll von potenziellen Mitspielern.«
»Sie ist anders«, beharrte Michelle eigensinnig und behielt die geschlossene Tür fest im Blick. So nah und doch so fern, seufzte sie innerlich.
»Michelle.« Ginas Stimme hatte einen warnenden Tonfall angenommen. »Verrenn dich nicht. Du kannst hier nur verlieren. Denk daran, was am Samstag geschehen ist.«
Unglücklich sah Michelle sie an. »Aber das mache ich doch schon die ganze Zeit. Sie ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen.«
Gina schüttelte nur den Kopf. »Vergiss sie, Michelle.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Danela Vargas und Jana Schuster kamen zusammen heraus.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Michelle, wie die beiden vor dem Büro stehenblieben.
Jana Schuster sprach eindringlich auf die neue Abteilungsleiterin ein, die ihren Kopf leicht geneigt hielt und ihr aufmerksam zuzuhören schien.
Schließlich drückte Jana Schuster sie kurz an sich und verließ das Büro.
Die beiden scheinen sich gut zu kennen, überlegte Michelle. Ob sie auch . . .
Bevor sie diesen Gedanken zu Ende bringen konnte, hob Danela den Kopf und ließ ihren Blick über die Mitarbeiter im Großraumbüro schweifen, bis sie bei Michelle ankam. Da drückte sie ihre breiten Schultern nach hinten durch. »Frau Brunner, kommen Sie bitte in mein Büro?«
Michelle spürte, wie ihr der Mund trocken wurde. Sie kennt meinen Namen.
In ihr lieferten sich Engelchen und Teufelchen eine hitzige Debatte.
Das ist gut, meinte Engelchen. Sie weiß, wer du bist, weil sie dich auch nicht vergessen konnte.
Das ist schlecht, hielt Teufelchen gehässig dagegen. Sie will sich nicht daran erinnern und wirft dich jetzt raus, damit sie deinen Anblick und die Erinnerung los ist.
Das alles verursachte Michelle weiche Knie, die schon fast zitterten, als sie auf das Büro ihrer neuen Chefin zuging. Mit jedem Schritt schoss ihr ein neues Szenario durch den Kopf. Einmal Teufelchen, einmal Engelchen.
Durch das kleine, momentan verwaiste Vorzimmer schlich sie fast bis zur Tür der Abteilungsleiterin, klopfte an und schob die nur halbgeöffnete Tür auf, als Danela sie dazu mit einem knappen »Herein!« aufforderte, und trat einen Schritt in das Büro hinein. Unentschlossen blieb sie stehen.
»Bitte schließen Sie die Tür.« Danela saß hinter ihrem Schreibtisch und sah Michelle über den Rand ihrer Brille an, musterte sie auf eine Art, die die Situation in Michelles Kopf eher in Richtung Teufelchen tendieren ließ.
Sie drückte die Tür hinter sich ins Schloss, bewegte sich aber dennoch nicht weiter auf Danelas Schreibtisch zu.
Ohne sie richtig anzusehen, wies Danela mit einer Hand auf den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz.«
Sie und Sie, dachte Michelle. Das klingt nicht gut.
Vorsichtig tastete sie sich an den Besucherstuhl heran und setzte sich angespannt auf die Kante.
Während sie Michelle unverwandt musterte, legte Danela ihre Brille vor sich auf den Schreibtisch, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schien auf etwas zu warten.
Es mochte nur ein Augenblick sein, den sie sich stumm gegenübersaßen, doch Michelle kam es wie eine Ewigkeit vor.
Sie nutzte den Moment, um sich Danela genauer anzusehen. Das hochgeschlossene Kostüm betonte ihren schlanken Hals. Ihre Haare trug sie in einem strengen Zopf geflochten. Das einfallende Tageslicht verlieh ihm einen dunklen Glanz. Die samtbraunen Augen hatten nichts von ihrer Anziehungskraft verloren.
Dafür war die Kälte in ihrer Stimme neu.
»Wir bleiben besser beim Sie hier in der Firma«, setzte sie an. »Oder spricht etwas dagegen?«
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