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»Kennen Sie das Gefühl, als würden Sie zwischen zwei . . . keine Ahnung, wie ich es genau beschreiben soll.«

»Versuchen Sie es.«

»Als würde man zwischen, hmm, zwischen zwei Welten wandeln, die Füße knöcheltief im Treibsand, immer die Angst im Nacken, es fehle nur ein Ruck und man würde in die Tiefe gerissen werden.«

Sie machte eine Pause, den Blick nach oben zu den mit den Jahren trüb gewordenen Fenstern gerichtet.

Ihr Nebenan sah sie nicht an.

»Und doch schafft man es immer, den Kopf oben zu halten, man schafft es, zu atmen, wenn auch schwer. Ganz so, als würde dich jemand von hinten umfassen und mit aller Macht auf deinen Brustkorb drücken«, fuhr sie fort.

Hannah bemerkte kaum, dass sie ihre Hände so sehr an ihr Glas presste, dass das Weiß der Knöchel hervortrat.

»Wie konnte man sich nur so gefangen fühlen, obwohl man doch eigentlich frei war?«

»Soll ich ehrlich sein?«

Hannah nickte, den Blick in ihr Glas gerichtet, während ein Schluck Whiskey auf ihrer Zunge zerging.

»So, wie Sie in diesem Moment neben mir sitzen, Ihre ganze Erscheinung, wirkt es, als würden Sie über eine völlig andere Person sprechen.«

Die Lippen zu einem Schmunzeln verzogen, antwortete Hannah: »Wer sind Sie? Psychologin?«

Die Frau neben ihr lachte auf. »Nein, nur jemand, der sehr genau beobachtet und zuhört. Mehr nicht.«

Die goldbraune Flüssigkeit schimmerte im kargen Licht der Bar, als Hannah das Glas hob und behutsam schwenkte. »Irgendwie haben Sie recht. Vielleicht keine andere Person, doch ein vergangenes Selbst. Nicht mehr man selbst, doch ein wichtiger Teil davon, der einen immer begleiten wird.«

Die Frau hob die Hand, als Hannah ihr Glas geleert hatte, um ihnen zwei neue Drinks zu bestellen.

Hannah winkte dankend ab. »Ich sollte nun wirklich gehen, ich habe Sie schon genug zugetextet.«

Und es hatte gutgetan! All die angestauten wirren Erinnerungen und Gedanken auf dem Bartresen abzuladen, wohlwissend, dass sie ihre zufällige Gesprächspartnerin nie wiedersehen würde.

Hin und wieder, so gut sie mit ihrer Vergangenheit, all den Narben und Wunden, auch umging, ja, hin und wieder tat es gut, ein Ventil zu öffnen. Manchmal mussten all die Gedanken in Worte gefasst werden, um wieder eine klare Struktur dahinter erkennen zu können.

Die Bar am Ende der Welt oder zumindest im Nirgendwo einer ihr fremden Gegend würde sie und ihre Geschichten genau in dem Moment vergessen, in dem sie durch die Tür ins Freie trat und in der kleinen Pension am anderen Ende des Ortes verschwand, in der sie zufällig gelandet war, weil an eine Weiterfahrt einfach nicht mehr zu denken war.

Zu oft hatte sie sich etliche hundert Kilometer durch die Nacht gekämpft, doch mittlerweile war ihr die Achtsamkeit gegenüber sich selbst zu wichtig, als dass sie weiter ihre Gesundheit mit Schlafmangel, zu viel Koffein und schlechtem Essen gefährden wollte.

»Nur noch dieser eine Drink, und ich werde Sie nicht mehr länger aufhalten.« Die Fremde schob Hannah den Drink entgegen, griff ihren eigenen und hob ihn zum Wohle.

Hannah zögerte, schielte auf die Uhr im hinteren Eck der Bar, als sie im selben Moment daran dachte, dass Zeit an diesem Abend relativ war. Es gab niemanden, der auf sie wartete.

Niemand, der sie herumscheuchte, ihr die nächsten Schritte aufzählte, den Ablauf vorbetete oder an ihr herumzuppelte. Niemand, der in diesem Moment auch nur einen Hauch von Kontrolle über ihre Abendgestaltung hatte.

Mit diesem Gedanken griff sie entschlossen nach ihrem Glas, hob es ebenfalls und nahm einen Schluck.

Die Frau lächelte. Hannah hatte nicht nach ihrem Namen gefragt, die Anonymität reizte sie. Auffordernd sah sie Hannah an. »Verraten Sie mir dann auch, wie Sie sich von den Dämonen der Vergangenheit befreit haben?«

»Das klingt nun sehr pathetisch. Warum reden wir nicht zur Abwechslung über Sie?« Hannah hatte einfach genug geredet. Müdigkeit kroch langsam in ihre Glieder, die Erschöpfung des Tages schien sie in Sekundenschnelle einzuholen wie ein bleierner Schatten.

»Ich bin nur eine Frau, die hin und wieder hierherkommt, um mit attraktiven Fremden Gespräche über den Sinn des Lebens zu führen.« Sie lachte auf. »Nein, ich bin einfach eine Frau, die heute hier gelandet ist und sich sehr über dieses interessante Gespräch und die Begegnung gefreut hat. Vielleicht musste es so sein.« Ihr Blick taxierte Hannah intensiv, fesselnd.

Elektrisierend.

Für einen kurzen Moment hielt Hannah den Atem an. »Ich muss leider los.« Sie wusste, dass es besser war, genau jetzt aufzubrechen.

»Sehe ich Sie wieder?« Die fremde Vertraute wandte sich um, blieb aber sitzen und sah Hannah dabei zu, wie sie sich in ihren Mantel packte, einen Schein auf den Tresen legte und der Bedienung zunickte.

Hannah lächelte. »Nein, ich denke nicht. Aber danke für diesen interessanten Abend.« Sie griff nach ihrem Schal, betrachtete die Fremde ein letztes Mal. Zwei, drei Sekunden, vielleicht auch mehr, dann drehte sie sich um und verließ durch das warme Dämmerlicht den Ort, der all ihre Geheimnisse und Geschichten in sich verschlingen würde, sobald sie die Tür aufstieß und nie mehr zurückkehren würde.

Heftiges Schneetreiben empfing sie.

Nasse Flocken legten sich auf ihr Gesicht und verfingen sich in ihren Wimpern, einen feuchten Schleier bildend.

Hätte der Weg nicht geradeaus die Hauptstraße entlang Richtung Pension geführt, es wäre ihr schwergefallen, in diesem Treiben den richtigen Weg zu finden. Von Schnee bedeckt sah alles so gleich aus, eine seltsame Mischung aus friedlich und bedrohlich.

Ein sonores Kribbeln setzte in ihrer Magengegend ein. Der eiskalte Wind kroch durch jede noch so kleinste Öffnung ihrer Kleidung und ließ sie erschaudern.

Hannah beschleunigte ihren Schritt und musste höllisch aufpassen, in der Senkrechte zu bleiben. Immer wieder sackte sie unvermittelt ein. Kalter Schnee tränkte ihre Stiefel. Das unangenehme Gefühl nasser Socken trieb sie voran. Einen kräftezehrenden Schritt nach dem anderen, nur das Ziel vor Augen, das letzte Quäntchen Kraft und der verlockende Gedanke an eine warme Dusche trieben sie an.

Schwaches Licht aus den Fenstern der Pension empfing sie, als sie schweratmend die letzten Meter zurücklegte. Ihr VW-Bus, der vor der Tür parkte, war unter einer dicken, weißen Schicht fast gänzlich verschwunden.

Die Tür fiel schwer hinter ihr ins Schloss und sie zuckte unweigerlich zusammen. So viel zu ihrem Vorhaben, mitten in der Nacht auf leisen Sohlen, von anderen Gästen unbemerkt, auf ihr Zimmer zu gelangen.

Sich über sich selbst ärgernd zog sie mit einem Ruck die dicke Wollmütze vom Kopf und seufzte. Ihre Haare hingen ihr wirr ins Gesicht.

»Keinen guten Abend gehabt?«

Erschrocken fuhr Hannah herum. Sarah, die gute Seele des Hauses, saß immer noch hinter ihrem kleinen Rezeptionstresen, die Lesebrille im krausen Haar, eine gestrickte Decke über den Schultern.

Hannah griff sich ans Herz. »Haben Sie mich erschreckt.«

Sarah lächelte. »Gäste von uns stecken draußen auf der Landstraße fest. Bob holt sie gerade ab. Ich halte hier die Stellung, bis alle wohlbehalten hier ankommen.«

Hannah sah durch das Fenster hinaus in das Schneetreiben, das sich immer mehr zu verstärken schien. Wie eine weiße Wand klammerte sich der Winter an die Häuser.

»Sehr klug, dass Sie heute Nacht nicht weitergefahren sind. Sie wären nicht weit gekommen. In der ganzen Gegend dasselbe Bild. Es ist kein Durchkommen mehr.«

Jenny Green: Die Farbe von Freiheit

1 »Kennen Sie das Gefühl, als würden Sie zwischen zwei . . . keine Ahnung, wie ich es genau...
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