»Also eigentlich ist die Frühstückszeit ohnehin um, von daher nimm dir gern von dem, was noch da ist. Da vorn stehen Becher«, sagte Sarah und deutete ihrer Angestellten an, weiterzumachen. »Das Frühstück heute verschlafen?«, wandte sie sich dann wieder an Hannah. Ihre unverblümte, direkte Art gefiel Hannah irgendwie.
»Sozusagen ja, aber ich will gleich los in den Ort und brauche nur kurz etwas Starthilfe in Form von Koffein.«
»Starthilfe hat dir auch jemand anderes schon gegeben«, fügte Sarah hinzu und deutete mit einem verschwörerischen Lächeln Richtung Ausgang.
Hannah sah sie verwirrt an. »Welche Starthilfe?«
»Oder hast du etwa selbst die ganze Nacht durchgeackert? Wundern würde es mich nicht.«
»Durchgeackert?« Nun war Hannah endgültig verwirrt. »Was meinst du denn?«
»Lass dich überraschen«, grinste Sarah, drückte Hannah noch den letzten Apfel in die Hand, ehe sie das leere Körbchen an sich nahm und gen Küche verschwand.
Das eingepackte Sandwich unter den Arm geklemmt, links den Kaffee, rechts den Apfel, steuerte Hannah auf den Eingang zu. Als ein anderer Gast gerade von draußen die Tür aufschwang, schlüpfte sie mit einem beherzten Satz nach draußen in die Kälte, die ihr immer wieder aufs Neue für einen kurzen Moment den Atem abschnitt.
Das, was sich dann vor ihren Augen auftat, erschien ihr im ersten Moment wie ein Trugbild. Mehrmals zwinkerte sie, doch das Bild, das sich ihr darbot, veränderte sich kein Stück.
Mit feinen letzten Schneeresten, die von seinem kleinen Winterschlaf zeugten, stand ihr Bus in all seiner Pracht vor ihr, als wäre er wie Phoenix aus der Asche auferstanden.
Ganz automatisch sah Hannah die Straße rauf und runter, doch niemand, der für dieses Wunder gesorgt haben könnte, war zu sehen, sie war allein.
Immer noch etwas ungläubig begann sie, den Bus zu umrunden, ließ ihre Augen über jeden Zentimeter des dunkelgrünen Lacks gleiten und spähte durch die Scheiben ins Innere. Nein, sie träumte nicht, er war frei!
Sie war frei!
Am liebsten hätte Hannah einen Freudensprung gemacht. Doch angesichts der immer noch spiegelglatten Straße und des heißen Kaffees in ihrer Hand rief sie sich zur Vernunft. Doch innerlich sprang sie wie ein fünfjähriges Kind auf und ab und schlug Pirouetten.
Der Blick nach oben in den Himmel verriet das zweite Wunder. Kein Schnee, keine neuen Flocken, halbwegs blauer, leicht wolkenverhangener Himmel. Oh Winter, du zeigst dich von deiner schöneren Seite. Licht erschien am Ende des Tunnels. Vielleicht hatten sich alle Vorhersagen geirrt und sie war schneller frei, als gedacht.
Sie würde schon bald hinter das Steuer klettern und mit quietschenden Reifen davonfahren können. Allein der Gedanke daran entfachte in ihr ein Feuer der Aufruhr.
Bald, wenn die Straßen Richtung Toronto vom Schnee und den umgefallenen Bäumen befreit waren, würde sie diesen Ort hinter sich lassen und nicht zurückschauen. Wie lange sollte das schon dauern?
Von neuem Mut erfüllt machte Hannah auf dem Absatz kehrt und tippelte in kleinen vorsichtigen Schritten Richtung Ortskern. Wer auch immer dieser Engel war, danke, danke, danke!
Wenige Menschen hatten sich in die Ortsmitte verirrt und watschelten wie Pinguine vorsichtig die Gehsteige entlang. Irgendwie romantisch, dachte Hannah bei sich, als der Schnee in der Sonne schimmerte und der Duft heißer Schokolade aus dem Café, an dem sie gerade vorbeiging, in ihre Nase stieg.
Suchend sah sie sich um. Eine Fremde inmitten all der Gestalten, die einem bestimmten Ziel folgten, niemand, der sich ratlos umsah. Gelassenheit in ihrer Haltung, Entschlossenheit in den Blicken, so glitten sie an Hannah vorbei, um die nächste Ecke verschwindend.
Hannah hielt kurz inne. Das Café im Rücken, eine kleine Poststelle zu ihrer linken, ein Obst- und Gemüseladen geradeaus. Ein Schild, das den Weg zu einem kleinen Kino wies, eine Buchhandlung neben einem Modegeschäft.
Endlich fand Hannah, was sie gesucht hatte. Das kleine Schild über dem Laden quietschte im Wind hin und her.
Sie straffte die Schultern, nahm die Hände aus den Manteltaschen und tapste, die Balance mit Mühe haltend, über die Eisfläche zur Ladentür. Schnell huschte sie in die Wärme, die sie förmlich anzog.
Ein leises Klingeln kündigte sie an. Niemand außer Hannah hatte sich hierher verirrt. Wahrscheinlich saßen alle mit der Familie zu Hause beim Mittagessen und sperrten den Winter für eine Weile aus.
Es roch angenehm nach Orangen und etwas Zimt. Der Laden war hell und gleichzeitig so gemütlich, dass Hannah sich am liebsten auf das Sofa in der Ecke gelegt hätte, um die nächsten Stunden einfach nur zu verweilen. Bücher reihten sich an handgemachte Keramik, die an wunderschöne Karten, kleine Feinkostschätze teilten sich das Regal mit Weinen aus Ontario. Kerzen, Seifen, Mützen, Pullis . . . Hannah wusste gar nicht, wohin sie als Erstes blicken sollte.
Als sie ein Rascheln neben sich vernahm, hielt sie inne. Kurz darauf erschien Elizabeths Lockenkopf aus dem Nebenraum und mit ihm ein breites Lächeln, das Hannah empfing. »Welch schöner Besuch«, begrüßte sie Hannah und legte das Tuch, das sie gerade noch in den Händen hielt, auf die Theke. »Wie geht es dir heute?«
Hannah merkte, wie ihr prompt die Wärme ins Gesicht stieg. »Entschuldige, gestern . . .«
Doch weiter kam sie nicht. Elizabeth winkte vehement ab. »Du bist mir keine Erklärung schuldig«, lächelte sie. »Ich hoffe, dir geht es heute besser.«
Hannah nickte. Elizabeths Lächeln war ansteckend. Sie spürte, wie ihre eigenen Mundwinkel es ihr unweigerlich gleichtaten. »Du hast einen wundervollen Laden.« Um ihre Worte zu unterstreichen, breitete Hannah ihre Arme aus und drehte sich einmal im Kreis.
»Mein Lebenstraum«, erwiderte Elizabeth. »Seit zwei Jahren gehört dieses Schmuckstück mir.«
»Und all die Produkte kommen aus der Gegend?«
Elizabeth wog den Kopf hin und her. »Vieles ja, manches habe ich von meinen Reisen mitgebracht. Die meisten Produkte sind jedoch handgemacht aus Ontario oder Kanada. Die Menschen hier lieben ihr Handwerk und jedes Produkt ist einzigartig.«
»Ich könnte mich hier wahrscheinlich stundenlang aufhalten«, sagte Hannah und wurde nachdenklich. »In meiner alten Heimat gab es auch so einen Laden, wie gern war ich dort!«
»Alte Heimat?« Elizabeth war nähergekommen. Sie hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um Hannah an der Schulter zu berühren, doch sie behielt den Abstand bei.
Ging Hannah einen Schritt zurück, folgte sie ihr, ging Hannah einen Schritt auf sie zu, trat sie zurück. Sie gab ihr nahbaren Raum und ihre Anwesenheit war von so einer warmen Aura umgeben, dass Hannah die Anspannung der letzten Tage für einen Moment völlig vergaß.
»In Bayern, also Deutschland. Aber das ist eine Weile her«, erklärte Hannah und Wehmut klopfte an ihr Herz, als sie daran dachte.
Elizabeth sah sie schweigend an, ihr Blick hielt Hannah fest. Sie ließ ihre Worte im Raum verweilen, bis sie langsam verklangen. »Was meinst du, trinkst du einen Kaffee mit mir dort drüben bei Joe? Ich wollte ohnehin Mittagspause machen.«
»Das Café dort drüben?« Hannah deutete aus dem Schaufenster und als Elizabeth nickte, lächelte sie. »Wenn die heiße Schokolade dort so himmlisch schmeckt, wie sie duftet, dann nichts wie hin!«
Ein paar Minuten später sog Hannah den Duft der feinen Schokolade in sich auf und betrachtete verträumt das Sahnehäubchen. Wann hatte sie zuletzt in einem Café gesessen? Ohne Hetzerei, ohne Meeting, ohne Zeitdruck? Sie konnte sich kaum daran erinnern. Irgendwie hatte diese Zwangspause doch etwas Gutes.