Das Stimmengemurmel der anderen Gäste war wie Musik in Hannahs Ohren. So oft hatte sie früher einfach nur im Café gesessen, ein gutes Buch in den Händen, während sie immer wieder innegehalten und die Menschen um sie herum beobachtet hatte. Wie viele Ideen für neue Songs hatte sie an diesen Orten bekommen, an denen es vor Menschlichkeit in all ihren Facetten nur so wimmelte? Es war eine Zeit, die vielleicht kurz, aber dennoch von so intensiver Zufriedenheit war, die sie zuvor selten erlebt hatte. Sie war bei sich, so sehr, dass sie endlich spürte, wer sie war und wer sie sein konnte, auch wenn das knapp über dreißig Jahre gedauert hatte. Sie hatte sich nicht gänzlich verloren.

»Woran denkst du?«, unterbrach Elizabeth ihr Gedankenkarussell.

»Alte Erinnerungen«, sagte Hannah sanft und begann, die Sahne von der Schokolade zu löffeln. »Heute habe ich das Gefühl, als hätte ich endlich den Pausenknopf gefunden.«

»Pause wovon?«, hakte Elizabeth nach und nahm einen Schluck ihres Kaffees.

»Puh, von allem irgendwie«, erwiderte Hannah und überlegte kurz. »Von den stressigen letzten Wochen, der Katastrophe, hier festzusitzen, obwohl ich in Toronto sein müsste, vom dauerhaften Schneefall.«

»Katastrophe«, wiederholte Elizabeth und schmunzelte. »Wenn es dich beruhigt, so katastrophal finde ich es gar nicht, dass du ausgerechnet hier festsitzt.«

Hannah sah auf. Kleine Grübchen erschienen, als Elizabeth sie anlachte. Schnell wandte Hannah den Blick wieder ab und sah nach draußen. »So meinte ich das gar nicht, aber dieser Zwischenstopp sollte nur von kurzer Dauer sein. Das Schneechaos bringt meinen Terminkalender etwas durcheinander.«

»Wie gut, dass zumindest dein Bus wieder bereit ist. Bald wirst du wieder auf dem Weg nach Toronto sein.«

Schwang da etwa Enttäuschung in ihrer Stimme mit? Und Moment! »Woher weißt du, dass mein Bus wieder frei ist?« Überrascht knallte Hannah die Tasse etwas zu stürmisch zurück auf den Teller. »Du?«

Elizabeth zuckte nur mit den Schultern. »Sieh es als Fluchthilfe an.«

Mangels Worten, die sich gerade in ihrem Kopf überschlugen, starrte Hannah ihr Gegenüber nur an. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, murmelte sie.

»Du musst nichts sagen«, winkte Elizabeth ab. »Hier im Ort hilft man sich einfach gern gegenseitig.«

»Wow, danke, also, wie kann ich mich revanchieren?«

»Musst du nicht«, beteuerte Elizabeth und leerte ihre Tasse. »Ich muss dann auch wieder zurück in den Laden.«

»Bitte, Elizabeth, was kann ich dir Gutes tun?« Reflexartig griff sie über den Tisch nach Elizabeths Hand, sodass diese sich wieder setzte.

»Du musst mir nichts Gutes tun«, bekräftigte sie erneut. »Ich habe es gern für dich gemacht. Wirklich.« Sie machte eine kurze Pause, schien zu überlegen, dann zog sie ihre Hand zurück und sah Hannah auffordernd an. »Also gut, ich wüsste da etwas.«

»Okay, sag, was kann ich tun?«

»Du gibst diesem Ort eine Chance, zumindest solange du noch zwangsweise hier feststeckst. Ob du nun in der Pension sitzt oder eine wunderbare Zeit an diesem wundervollen Ort – natürlich mit mir – verbringst, ist doch eine leichte Entscheidung, oder?«

Elizabeth hatte recht. Sicherlich würde Hannah morgen noch nicht abreisen können. Vielleicht übermorgen, wenn sie Glück hatte. »Okay, warum nicht«, stimmte sie zu und hob die Hände, um zu zeigen, dass sie sich geschlagen gab.

»Also gut«, lächelte Elizabeth. »Ich melde mich bei dir, ich weiß ja, wo du untergekommen bist.« Dann klopfte sie zur Verabschiedung auf den Tisch, grüßte Joe und verschwand eiligen Schrittes nach draußen.

Als Elizabeth außer Reichweite war, musste Hannah unweigerlich schmunzeln. Dieser Frau hatte sie offensichtlich wenig Argumente entgegenzusetzen. Aber schön, dann würde sie die kommenden Tage als Auszeit, quasi als kleinen Urlaub betrachten und sich auf das Wagnis einlassen.

Ob dieser kleine Ort wirklich so wundervoll war, davon musste Elizabeth sie erst einmal überzeugen. Aber ihre Akkus, ja, die bedurften tatsächlich dringend einer Aufladung.

4

»Planänderung, Liebes. Nach all dem Stress brauche ich eine Gehaltserhöhung!« Andys raues Lachen, spielerisch gequält, rauschte durch die Leitung.

»Darüber sprechen wir, wenn ich zurück bin«, feixte Hannah, den Terminkalender auf ihren Schoß gebettet, während sie den Kugelschreiber in der anderen Hand zwischen den Fingern drehte. »Wann muss ich wo sein?«

»Also, es war leichter, die Termine mit etwas zeitlichem Puffer zu verschieben, sodass du tatsächlich eine Woche Leerlauf hast, dafür wirst du die Woche darauf vier Termine in sieben Tagen haben. Wir starten in Kingston mit zwei Terminen an aufeinanderfolgenden Tagen, sodass du einen relativ entspannten Start hast und dort übernachten kannst. Keine Ahnung, wie ich das hinbekommen habe.«

»Danke, Andy.«

»Ach was, das ist mein Job, Liebes, letztendlich hat sich doch alles noch gut ergeben. Alle anderen Termine schicke ich dir nachher durch. Sieh zu, dass du erst einmal zurück in die Stadt kommst, du musst ja vor Langeweile zergehen.«

»Nein, eigentlich«, Hannah machte eine kurze Pause, »eigentlich tut mir die Pause ganz gut.«

»Schwer vorzustellen, dass du einfach mal das Nichtstun genießt. Das verstehe ich, aber trotzdem wird es Zeit, dass du nach Hause zu Lauren kommst.« In Andys Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit.

»Wie meinst du das?«

Schweigen.

»Andy, bist du noch da?«

Räuspern.

»Klar, du fehlst hier einfach sehr. Die Straßen sollen bis Montag frei sein. Schwing dich einfach ins Auto, sobald es dir möglich ist. Natürlich ohne Risiko. Wir wollen dich wohlbehalten zurückhaben.«

»Dann werde ich wohl am Montag auf dem Weg zurück sein.«

»Schön«, sagte Andy, der Ton wieder sanfter. »Und, ach ja«, nun kehrte er zu seiner üblichen Geschäftigkeit zurück, »check deine Social-Media-Kanäle, ein kleines Lebenszeichen an deine Follower aus dem Winter Wonderland schadet sicher nicht. Es muss ja keine großartige Sache sein, aber wenigstens etwas.«

Hannah seufzte. Social Media war ihr mehr ein Klotz am Bein als wahre Freude, was sie natürlich nie öffentlich zugeben würde. Manchmal hasste sie es sogar. Es war ein Zeitfresser, der leider Teil des Business war. Eine Empfindung, die sie nicht laut aussprechen durfte.

Sie liebte die Musik, sie liebte es, vor Menschen aufzutreten, mit ihnen für einen Abend auf der gleichen Wellenlänge zu liegen, ihre positiven Schwingungen in sich aufzunehmen. Doch die Aufmerksamkeit und der Ruhm bargen Schattenseiten, die sie am liebsten ausgeklammert hätte.

Im Gegensatz dazu liebte Lauren jene andere Aufmerksamkeit, sie liebte es, sich zu präsentieren, war stets mit guten Ratschlägen und Ideen für Hannahs Social-Media-Accounts zur Stelle und genoss jede einzelne Minute, die sie damit selbst in der Öffentlichkeit stehen konnte.

Lauren hätte Hannah am liebsten in den großen Hallen gesehen. Hannah bevorzugte jedoch kleine, intime Klubs oder Theater. Lauren hätte am liebsten auf allen Events getanzt, die ihnen ins Haus flatterten, Hannah war froh, wenn sie zu Hause die Füße hochlegen konnte, vor allem, wenn die vergangene Nacht kurz war. Sie mochte das Blitzlichtgewitter nicht. Sie stand der Presse äußerst skeptisch gegenüber, die am liebsten jede noch so kleinste Ecke ihres Privatlebens beleuchtet hätte.

So unterschiedlich sie in dieser Beziehung waren, so gut ergänzten sie sich in ihrer Verschiedenheit in vielen anderen Dingen. Lauren war temperamentvoll, Hannah eher der entspanntere Typ Mensch, sofern sie nicht gerade in der Pampa feststeckte. Lauren konnte sie anstacheln, Hannah konnte Lauren auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Lauren kochte gern, Hannah aß gern.

Jenny Green: Die Farbe von Freiheit

1 »Kennen Sie das Gefühl, als würden Sie zwischen zwei . . . keine Ahnung, wie ich es genau...
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