Was beide jedoch teilten, war die Liebe zum Leben, zu neuen Abenteuern und neuen Erfahrungen. Stillstand war etwas, das beide nur schwer aushalten konnten.
Und dann war da natürlich die Liebe. Als Hannah Lauren kennengelernt hatte, war sie fasziniert von dieser rothaarigen Schönheit, die alle um sich herum in ihren Bann zu ziehen schien, egal ob Mann oder Frau. Es war kein Feuerwerk, das in ihr losbrach, als sie Lauren das erste Mal gesehen hatte, sondern Gefühle, die sich über eine längere Zeit des Datens leise anschlichen und blieben, sich verfestigten und sie verbanden.
Nicht das absolut umwerfende Kribbeln, von dem viele sprachen, aber musste das immer zwangsläufig so sein? Musste immer diese verstandraubende Verliebtheit der Beginn einer wahren Liebe sein? Das, was sie beide verband, war beständiger als jedes Feuerwerk, jeder Schmetterling und jedes Herzrasen.
Lauren trat in ihr Leben und wurde innerhalb kurzer Zeit der wichtigste Mensch. Ihre Partnerin in Crime. Sie war an ihrer Seite, als es die Vergangenheit zu bewältigen galt, war da, als die Tiefen manchmal länger dauerten als die Höhen. Und auch Hannah sah, was hinter Laurens attraktiver Fassade wirklich schlummerte, und es verband sie nur noch mehr.
Sieben Jahre.
Sieben Jahre war es her, als sie zum ersten Mal in diese grünen Augen gesehen hatte und ihr Leben die Richtung wechselte.
Ja, es wurde Zeit, heimzukehren.
Hannah schaltete das Handy stumm und legte es beiseite. Aus ihrer Tasche kramte sie einen frischen Pullover und die letzte frische Hose. Wie gut, dass sie immer Notfallklamotten dabeihatte. Was bisher eher eine reine Vorsichtsmaßnahme war, gab ihr jetzt ein kleines bisschen Lebensqualität zurück.
Die getragenen Sachen ließ sie in der Tasche verschwinden, verschloss sie und stellte sie zurück in den Schrank. Morgen würde sie dem kleinen Waschsalon um die Ecke einen Besuch abstatten.
5
All die Stühle und kleinen Tischchen wirkten wie ein riesiges buntes Sammelsurium, bei dem kein Teil zum anderen passen wollte. Doch das Chaos, das man dahinter vermuten konnte, gab einem kein konfuses, unaufgeräumtes Gefühl, im Gegenteil. All das machte diesen Ort irgendwie urgemütlich.
Hannah hatte das Gefühl, sich in diesen Ort fallenlassen zu können wie in eine weiche, kuschelige Höhle, Zeit und Raum entflohen. Eine andere Welt.
Angenehmes Stimmengemurmel füllte den Raum. Menschen, die die Köpfe zusammensteckten. Süßer Duft nach warmem Popcorn in der Nase, sog Hannah den Moment in sich auf. Der Raum war in gedämpftes Licht gehüllt, gerade so hell, dass die Ankommenden die freien Plätze ansteuern konnten.
Hannah dachte an den kleinen Wegweiser, den sie gestern bereits gesehen hatte. Da hatte sie noch keine Ahnung gehabt, dass sich in einem kleinen Hinterhof dieser charmante Raum auftun würde.
Dieser Ort passte zu Beaver Peak. In Beaver Peak schien alles etwas anders zu laufen, schien alles etwas gemütlicher, die Leute noch entspannter zu sein, als es die Kanadier ohnehin größtenteils schon waren.
Langsam fing Hannah an, dem Wettergott zu danken, dass er seine Schneekanone ausgerechnet auf ihrem Rückweg abgefeuert hatte. Nie im Traum hätte sie sonst daran gedacht, ihre Fahrt für mehr als eine Nacht zu unterbrechen, und all das hier wäre ihr entgangen.
Elizabeth ließ sich neben ihr auf den Sessel fallen und reichte Hannah eine Tasse mit dampfendem Glühwein. Daneben stellte sie einen bunt bemalten Teller mit Waffeln.
Schmunzelnd sah Hannah ihre Begleitung an. »Waffeln und Glühwein im Kino, wo bin ich hier nur gelandet?«
»Am schönsten Ort, den ich mir vorstellen kann. In diesem Kino bin ich quasi aufgewachsen. Als wir klein waren, sind wir jedes zweite Wochenende mit unseren Eltern hierhergekommen. Und es hat sich nichts verändert. Schon damals sah es aus wie heute. Es ist wie mein zweites Wohnzimmer.«
Während Hannah Elizabeths nostalgischer Schwärmerei lauschte, spürte sie, wie sich ein Kloß langsam, aber merklich in ihrem Hals ausbreitete, immer mehr Raum einforderte und das Atmen erschwerte.
Einatmen. Ausatmen.
Kurz die Luft anhalten. Bis fünf zählen.
Einatmen. Ausatmen.
Kurz die Augen schließen.
Atmen.
Als Hannah die Augen langsam wieder öffnete, Elizabeths Stimme war wie durch einen Nebel in den Hintergrund getreten, verdunkelte sich der Raum langsam, bis sie völlig in Dunkelheit gehüllt waren.
Elizabeth hatte zu sprechen aufgehört und den Blick nach vorn gerichtet. Offensichtlich hatte sie Hannahs kurze ›Auszeit‹ nicht bemerkt.
Hannahs Herzschlag hatte sich langsam wieder beruhigt, das kurze Erdbeben ebbte ab, nur ein flaues, kaum merkliches Vibrieren in der Magengegend blieb. Die Welle, die geradewegs auf sie zusteuern wollte, hatte rechtzeitig an Kraft verloren.
Angestrengt kaute Hannah auf den Lippen, bis sich ihre Gesichtsmuskeln langsam entspannten.
Die Leinwand vor ihnen erhellte sich, die übliche Werbung blieb aus. In Sekundenschnelle wurde die reale Welt um sie herum verdrängt und eine der schönsten Liebesgeschichten Hollywoods streckte die Hand nach ihr aus, die sie bereitwillig ergriff. Die heiß ersehnte Flucht aus dem Hier und jetzt.
Notting Hill.
Sie traute sich kaum, laut aussprechen, wie sehr sie diesen Film schon immer geliebt hatte. Als unverbesserliche Romantikerin würde Lauren sie bezeichnen und ihre Meckertirade darüber starten, dass Hugh Grant kein ernstzunehmender Schauspieler war, welchem man neunzig Minuten seines Lebens opfern sollte. Nein, vielmehr gehörte er zu den furchtbarsten und untalentiertesten Darstellern, die Hollywood je hervorgebracht hatte. Ach, Lauren . . .
Als ihr Elizabeths Einladung ins Kino ins Haus geflattert war, musste Hannah schon kaum überzeugt werden. Als sie dann auch noch hörte, dass nicht irgendein neuer x-beliebiger Film laufen würde, sondern das Kino gern Klassiker zeigte, war die Abendplanung perfekt.
Obwohl sie die Handlung in- und auswendig kannte, Dialoge in Gedanken mitsprechen konnte, sicherlich bewegte sie manchmal die Lippen synchron, fesselte sie dieser Film – Schnulze hin oder her – immer wieder aufs Neue.
Den Kopf nur leicht gedreht, schielte sie aus den Augenwinkeln zu Elizabeth hinüber, die mit einem seligen Lächeln auf den Lippen gen Leinwand schaute, ihre Tasse in beiden Händen auf dem Schoß.
Die Gedanken an Toronto, an zu Hause, ruhten, seit sie diesen Ort hier betreten hatte. Und um ehrlich zu sein, in diesem Moment wollte sie nirgendwo anders sein. Dieser Ort, die Menschen um sie herum, all das hier schien sie für den Moment zu erden. Zumindest solange sie nicht über irgendwelche Vergangenheiten nachdenken musste.
Danke Hugh Grant, danke, dass du für eine Weile die Realität ausknipst! Julia Roberts, du natürlich auch!
Nach dem Film gingen sie nebeneinander zur Pension, die Gesichter in dicken Schals vergraben.
»Wie fandest du Argument Nummer eins?«
Hannah drehte den Kopf zu Elizabeth, während sie weiterlief. Die frostige Nacht trieb sie förmlich voran. »Argument Nummer eins?«
»Dafür, dass Beaver Peak einer der wundervollsten Orte hier in Ontario ist.« Elizabeth lachte.
»Nun gut, du weißt ja, in Toronto sind wir ganz andere Dimensionen gewöhnt«, schmunzelte Hannah, dann schüttelte sie lachend den Kopf. »Nein, dieses Kino ist sicherlich einer der schönsten Orte, die ich je gesehen habe, so individuell und unangepasst.«
»Dann darf ich also morgen mit Argument Nummer zwei fortfahren?«
Hannah blieb stehen, als sie die Pension erreicht hatten. Das Licht über dem Eingang erhellte den Bürgersteig schwach. »Ich habe Zeit«, nickte sie und warf ihrem Bus einen kurzen sehnsüchtigen Blick zu, der Elizabeth nicht entging.