»Aber du freust dich darauf, endlich zu starten, oder?«
Hannah zuckte ertappt mit den Schultern, nickte aber dann. »Mein Leben ist in Toronto, meine Arbeit wartet auf mich, und . . .«
»Nur die Arbeit?«, unterbrach Elizabeth sie und ihre grünen Augen schimmerten im schwachen Licht, als sie Hannah fragend ansah.
»Nicht nur«, sagte Hannah, dann sah sie hinüber zur Eingangstür.
»Entschuldige, ich wollte nicht neugierig sein.« Elizabeth räusperte sich und sah den Weg entlang, den sie gerade gekommen waren. »Ich muss dann auch. Es war schön heute. Ich habe mich sehr gefreut, dass du mitgekommen bist.«
»Ich mich auch«, lächelte Hannah, dann wandte sie sich zum Gehen, bewegte sich auf den Eingang zu. Hielt noch einmal kurz inne und sah über die Schulter zurück. »Also dann, ich bin gespannt auf Argument Nummer zwei.«
6
Vier verpasste Anrufe, zwei Nachrichten, keine Mailboxnachricht.
Hannah rieb sich die müden Augen. Es dauerte einen Moment, bis ihr Blick scharfgestellt war. Und noch einen weiteren, bis sie die kleine Uhrzeit auf dem Display lesen konnte.
Sieben Uhr morgens.
Sie rappelte sich auf, bis sie halbwegs aufrecht im Bett saß, die Haare wirr aus dem Gesicht gestrichen. Sie tippte auf das Kontaktsymbol und lauschte dem Freizeichen. Fünfmal, sechsmal, siebenmal, bis sie irgendwann wieder auflegte.
Sie checkte erneut die Anrufe in Abwesenheit. Der erste um ein Uhr dreißig, der zweite um zwei Uhr dreizehn, der letzte schließlich um zwei Uhr dreiundvierzig.
Zwei Nachrichten mit demselben Inhalt. Vermutlich versehentlich doppelt verschickt, etwas wirr, Buchstabendreher und überflüssige Leerzeichen.
Vmisse dich , lass usn rede.
Warum um alles in der Welt wollte Lauren sie mitten in der Nacht erreichen? Mehrmals. Und dann diese Nachricht.
Dann fiel es Hannah ein. Lauren hatte ihr von der Reservierung im Green Bamboo erzählt, die sie für gestern Abend vorgenommen hatte. Wahrscheinlich war sie ohne Hannah hingegangen, hatte einen netten Abend mit Freunden verbracht, wahrscheinlich war es später geworden und Lauren angeschickert nach Hause gekommen. Was den Verfall der Rechtschreibung erklären würde.
Aber warum wollte sie so dringend mit ihr reden? Mitten in der Nacht. Sehnsucht? Für derart nächtliche Anrufe war Lauren nicht der Typ. Selten hatten sie nach einem Auftritt telefoniert, sondern sich darauf gefreut, sich bald wiederzusehen. Lauren ließ Hannah ihren Freiraum und nahm sich stets den ihren, schließlich war jede von ihnen noch ein Ich und kein verschmolzenes Wir.
Was also war los? Hannah verspürte ein nervöses Ziehen. Da sie wusste, dass ein weiterer Anruf nicht von Erfolg gekrönt sein würde, begann sie zu tippen. Irgendetwas stimmte nicht.
Ruf mich an, wenn du wach bist. Ich bin erreichbar.
Dann legte sie das Handy auf das Nachttischchen neben sich, schlug die Decke noch einmal über sich und lehnte den Kopf gegen die Rückwand des Bettes.
Die Müdigkeit war wie weggefegt. Gedanken begannen zu rasen, ein wirrer Strudel, der nichts klar erscheinen ließ. Sie dachte so vieles und doch nichts.
Kurz dachte sie daran, ihre Tasche zu packen. Für morgen. Nach dem Frühstück würde sie aufbrechen. Sie hatte Sarah bereits über das Ende ihres Aufenthalts informiert, hatte bereits bezahlt, um am nächsten Tag so schnell wie möglich in ihren Bus steigen zu können. Unabhängig, so wie es ihr gefiel.
Sie sah aus dem Fenster. Langsam bahnte sich Sonnenlicht durch die Dunkelheit des Morgens. Keine Spur von Wolken, neuem Schneefall oder anderer Katastrophen. Eher Traumszenario, Sonnenaufgang im Winter Wonderland. Wäre sie im Urlaub, sie hätte den Jackpot gezogen.
Doch andererseits war sie nicht die Winterurlauberin, die Skifahrerin oder überhaupt der Urlaubstyp. Reisen, ja, Land und Kultur kennenlernen, jeden Tag unterwegs sein, neue Abenteuer, neue Entdeckungen, mit Menschen verschiedener Herkunft sprechen, gemeinsam musizieren oder einfach nur still sein.
Doch die Vorstellung, an einem x-beliebigen Strand in einem x-beliebigen Sonnenstuhl unter einem x-beliebigen Sonnenschirm mit einem x-beliebigen Cocktail in der Hand zu liegen, widerstrebte ihr gänzlich.
Viele Jahre wäre so etwas wie Urlaub ohnehin nicht machbar gewesen, fernab jeglicher finanzieller Möglichkeiten, fernab des Erreichbaren und somit auch nicht wichtig. Nicht wichtig, um sich vor falschen Träumereien und daraus folgender Verletzungen zu schützen.
Als zumindest irgendwann die finanziellen Mittel vorhanden waren, griff Hannah lieber nach ihrem Rucksack, reiste teilweise ohne festen Plan an ihr Ziel und reiste durch das Land, indem sie jeden Tag aufs Neue entschied, wohin der Weg führen sollte, wo sie anhalten oder weiterziehen wollte.
Sie schlief auf verschiedenen Sofas, in kleinen Hostels, selten in Hotels und manchmal sogar in Zelten. Unabhängigkeit, was für ein kostbares Gut. Ihr Leben in den eigenen Händen zu halten, war nach allem, das sie zuvor durchlebt hatte, wo sie keine Entscheidungsgewalt über ihr Leben hatte, essenziell. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte, und das war ein unbeschreibliches Gefühl.
Das Klingeln des Telefons auf dem kleinen Tisch im Zimmer riss Hannah aus ihren Gedanken. Perplex sah sie auf. Dieser kleine blaue Apparat war ihr zuvor gar nicht aufgefallen.
Sie schälte sich aus der Decke, durchquerte mit drei Schritten den Raum und stand etwas ungläubig vor dem bimmelnden Telefon.
»Hallo?«, meldete sie sich schließlich und lauschte dem Rauschen in der Leitung.
»Hier ist Besuch für dich«, ertönte Sarahs Stimme, die erstaunlich frisch für die frühen Morgenstunden klang.
»Besuch?« Hannah fuhr sich mehrmals durch die Haare, doch die Strähnen machten, was sie wollten.
»Elizabeth Wilson«, erwiderte Sarah nur kurz. »Soll ich sie hochschicken?«
»Ähm«, stammelte Hannah überrascht und sah sich in ihrem Chaos um. In den Spiegel wollte sie lieber nicht blicken. »Ähm, nein, ich komme runter. In fünfzehn Minuten.« Dann knallte sie den Telefonhörer zurück.
Überfordert flog ihr Blick in alle Ecken des Zimmers und schließlich an sich selbst herab. Bilder von Pyjamapartys mit topgestylten Teilnehmern ploppten in ihrem Kopf auf. Verglichen dazu sah sie aus, als hätte sie eine Woche lang ihr Zimmer nicht verlassen und vielmehr eine Zombieparty gefeiert. Fehlten nur noch die Chipskrümel im Haar.
Als sie sich wieder sammelte, huschte sie ins Bad, stellte das Wasser in der Dusche an, griff parallel nach Zahnbürste und Zahnpasta und verschwand damit in der Dusche. Ein Hoch auf die Multitaskingfähigkeit.
Wenig später, den Föhn in der einen Hand, während sie mit der anderen versuchte, auf einem Bein hüpfend die Hosenbeine der engen Jeans zu besiegen, schielte sie auf die Uhr. Zehn Minuten seit dem Telefonat. Usain Bolt wirkte blass neben ihr.
Die Haare, halbwegs trocken, band sie zu einem alles andere als akkuraten Dutt. Während sie nach ihren Schuhen unterm Bett fischte, merkte sie erst, wie sehr sie außer Atem war. Was für ein Morgen! Elizabeth hatte sich doch melden und sie nicht mitten in der Nacht überfallen wollen.
Als Hannah das Zimmer verließ und ins Treppenhaus trat, verlangte es sie nur nach einem: Kaffee in rauen Mengen. Derart turbulente Morgen forderten Koffein als Treibstoff.
Sarah sah sie bereits von Weitem die Treppe nach unten laufen und deutete Richtung Frühstücksraum.
Hannah winkte ihr zu, schoss um die Kurve und schwang die Tür zu besagtem Raum auf. Es herrschte reger Betrieb. Das Stimmengewirr war von derartiger Lautstärke, wie sie Hannah um diese Zeit nur schwer ertrug. Sie ließ ihren Blick über die Köpfe wandern, und erst als sie im letzten Winkel angekommen war, sah sie Elizabeth, wie sie versunken in die Zeitung vor ihr an einer Kaffeetasse nippte.