Kaum saßen sie, wurden sie von einem jungen Mann, der kaum älter als achtzehn sein konnte, im Maple Leafs Diner begrüßt. Schnell kritzelte er die Bestellung auf seinen Block, lächelte noch einmal schüchtern und verschwand dann in der Küche.

»Kommst du öfter hierher?«, fragte Hannah und sah sich um.

»Wie gesagt, die haben die besten Pancakes«, schmunzelte Elizabeth.

»Du willst mir doch nicht weismachen, dass du die ganze Strecke hierher nur wegen der Pancakes fährst.«

Elizabeth zuckte mit den Schultern. »Das Diner gehörte einmal meinen Großeltern. Vor einigen Jahren haben sie es verkauft. Also ist es für mich auch irgendwie wie Heimat.«

»Sag bloß, das Rezept für die Pancakes stammt noch von deinen Großeltern?«, kombinierte Hannah.

»Das geheime Rezept wechselte sozusagen mit dem Diner den Besitzer. Aber immer, wenn ich hierherkomme und die Pancakes bestelle, ist es, als hätte sie meine Großmutter frisch für mich gemacht.«

»Das klingt wirklich schön«, sagte Hannah leise und Melancholie schlich sich in ihre Stimme.

»Ja, an diesem Ort fühle ich mich sehr mit ihnen verbunden«, antwortete Elizabeth und lächelte, als die Bedienung ihnen jeweils einen großen Teller Pancakes servierte. »Probiere sie selbst.«

Hannah betrachtete den fast unbezwingbaren Berg köstlich duftender Pancakes vor sich. Der Ahornsirup spiegelte karamellbraun glänzend auf ihrem Teller.

Die ersten Bissen aßen sie schweigend, beinahe andächtig. Elizabeth hatte nicht übertrieben. Es schmeckte himmlisch. So zart und fluffig und doch so kräftig mit der angenehmen Süße des Sirups. Sie war wahrlich im Pancakehimmel!

Als die Teller etwa zur Hälfte geleert waren, sah Elizabeth auf. »Ist deine Familie in Deutschland geblieben?«

Hannah hörte unvermittelt auf zu kauen. Der Bissen in ihrem Mund fühlte sich plötzlich an wie ein schwerer, klobiger Stein, den sie ungelenk hin und her schob. Sie legte das Besteck zur Seite, kaute mühsam und schluckte den Kloß hinunter. Sie räusperte sich. »Nein, ich bin allein hierhergezogen.«

Eine kurze Pause entstand zwischen ihnen, in denen das Klappern der Gabeln und Messer auf den Tellern ringsherum unerträglich anschwoll. Hannah klammerte sich an die Kaffeetasse und starrte Löcher in die Reste auf ihrem Teller.

»Du redest nicht gern darüber, oder?«, fragte Elizabeth vorsichtig.

Hannah schüttelte den Kopf. »Nein«

»Das ist natürlich völlig okay. Entschuldige bitte meine Neugier.« Elizabeth legte ihr Besteck ebenfalls beiseite, griff nach der Serviette und tupfte sich den Mund ab. Dann nahm sie den letzten Schluck aus ihrer Tasse und winkte der Bedienung.

Während Elizabeth zahlte – sie bestand darauf, Hannah einzuladen –, leerte Hannah ihren Becher. Mehr oder weniger erfolgreich versuchte sie, die Beklemmung, die sie bei diesem Thema unweigerlich befallen hatte, hinunterzuspülen.

Für Elizabeth schien das Thema erledigt zu sein. Hannah wollte nicht reden, also war es okay für sie.

Bislang hatte Hannahs Verschlossenheit bei diesem Thema bei ihren Gesprächspartnern eher eine Art Helfersyndrom ausgelöst. Selten hatten sie lockergelassen, hatten nachgebohrt, ihr doch nur helfen wollen, denn Reden würde doch guttun und sie solle doch nicht alles in sich hineinfressen. Wie unangenehm diese Situationen doch für alle Beteiligten waren.

Und Hannah hatte geredet, etliche Sitzungen lang. Zunächst kaum, dann immer mehr, bis irgendwann alles aus ihr heraussprudelte, alle Emotionen wie in einem Sturm herumwirbelten, ein Auf und Ab, ein Schmerz, der sie manchmal schier zu zerreißen drohte, der sie manchmal sogar den Wunsch hatte äußern lassen, abzubrechen. Ja, sie hatte manchmal sogar förmlich danach gefleht.

Doch am Ende hatten sich all der Schmerz, alle Tiefs, alle Kräfte, die sie aufgebracht hatte, gelohnt. Sie hatte sich ihrem Trauma entgegengestellt, hatte es wieder und wieder auf sich zukommen lassen, war standhaft geblieben, hatte ihm in die Augen gesehen. Ein Duell Auge um Auge, kräftezehrend, nervenaufreibend. Doch am Ende hatte sie gewonnen, sie hatte diesem Dämon den Kampf angesagt und gesiegt.

Doch ein kleiner dunkler Fleck klebte an ihr wie Kaugummi, hatte sich an ihre Fersen geheftet und war zum treuen Begleiter geworden. Ein kleiner Fleck eines riesigen Ungeheuers war übrig geblieben und sie tat gut daran, damit leben zu lernen, auch wenn er sie immer wieder herausforderte. Abschütteln war sinnlos, ihn zu akzeptieren das einzige Mittel.

Als sie aufstanden, um das Diner zu verlassen, drehte sich Elizabeth noch einmal zu ihr um, einen Ausdruck in den Augen, den Hannah nicht deuten konnte. Ihre Lippen hatten sich zu einem leichten Lächeln verzogen. »Hat nicht jede Familie ihre Geheimnisse?«

Dann zwinkerte sie Hannah zu, stieß die Tür auf und ging voran in Richtung ihres Autos.

8

Hannah stand auf einem Felsvorsprung, etwas wackelig, der schneebedeckte Boden knirschte unter der kleinsten Bewegung.

Bevor sie am Rande des Abgrunds angekommen war, hatte sie noch keine Angst gehabt, jedoch Respekt davor, dass der kleinste Fehltritt in einer Rutschfahrt den steilen Felsen hinab enden könnte.

Unter diesen Umständen fiel es ihr im ersten Moment gar nicht leicht, das, was vor ihr lag, in all seiner Schönheit wahrzunehmen.

Elizabeth stand neben ihr, als wäre nichts. Im Gegenteil, locker-flockig trat sie von einem Bein auf das andere. War sie irre geworden?

Hannah, endlich ganz oben angekommen, traute sich kaum, nach unten zu sehen. Verdammte Höhenangst, hallo, schön, dich wiederzusehen!

Hannah hob vorsichtig beide Arme beinahe in Zeitlupentempo, um ihre Kapuze über die dicke Mütze zu ziehen. Der Wind war hier oben nur stärker geworden und stob den frischgefallenen Schnee auf. Erst, als sie nicht mehr das Gefühl hatte, dass der Wind ihr einmal quer durch den Kopf pfiff, klärte sich das Bild vor ihren Augen und dieses Mal hielt sie seinetwegen inne. Was für ein Ausblick!

Unter ihnen tat sich ein kleines Tal auf, eingebettet in die Felsformation, auf der Elizabeth und sie standen. Auf der anderen Seite ragte eine fast identische Wand auf, doch mitten darin präsentierte sich ein gigantischer, zu Eiskristallen gefrorener Wasserfall in seinem schönsten Gewand. Er glitzerte im Sonnenlicht und zeigte, wie klein die Menschen doch in Anbetracht der Gewalten der Natur waren.

»Wow!«, entfuhr es Hannah, mehr vermochte sie in diesem Moment nicht zu sagen.

Elizabeth schwieg neben ihr, den Blick auf das Tal gerichtet. Ihr Atem zeichnete kleine Wolken in die Luft.

Hannah wurde ruhiger. Die Ruhe breitete sich von den Beinen über ihren Bauch in die Arme aus. Auch ihr Kopf, ihr Gedankenkarussell schien langsam innezuhalten.

Sie atmete.

Ein.

Aus.

Sie war einfach.

In diesem Moment existierte sie einfach. Ein kleiner Mensch, ein Miniaturpunkt auf der Weltkarte und des Lebens. Ein Gedanke, der sie erdete. Alle Probleme, jegliches Chaos oder all die kleinen und großen Sorgen des Lebens schienen mit einem Mal so winzig. Wenn dieser tosende Wasserfall, der er in wärmeren Monaten war, innehalten konnte, konnte sie kleiner Mensch das doch ebenso!

Eine kleine Ewigkeit standen sie einfach so nebeneinander. Es bedurfte keiner Worte in diesem Moment. Jede war allein mit sich, mit ihren Gedanken und Gefühlen. Und doch war es schön, diesen Moment mit jemandem zu teilen.

Irgendwann durchbrach Hannah die Stille, den Blick jedoch weiter nach vorn gerichtet. »Kommst du öfter hierher?«

»Immer dann, wenn ich das Gefühl habe, mein Leben wird zu chaotisch oder nimmt mich zu sehr ein. Ja, dann komme ich hierher, sitze einfach Stunden hier und drücke den Resetknopf. Hier lässt es sich gut allein sein.«

Jenny Green: Die Farbe von Freiheit

1 »Kennen Sie das Gefühl, als würden Sie zwischen zwei . . . keine Ahnung, wie ich es genau...
Hannah nickte. »Morgen sieht es bestimmt besser aus.« Sarah nahm die Brille vom Kopf und legte sie...
»Kann man denn irgendetwas tun, irgendwie helfen, oder . . . ich weiß auch nicht. Hier herumsitzen...
Sie kannte dieses Gefühl, auch wenn es ein entferntes, lange nicht angetroffenes Gefühl war. Nein,...
»Also eigentlich ist die Frühstückszeit ohnehin um, von daher nimm dir gern von dem, was noch da...
Das Stimmengemurmel der anderen Gäste war wie Musik in Hannahs Ohren. So oft hatte sie früher...
Was beide jedoch teilten, war die Liebe zum Leben, zu neuen Abenteuern und neuen Erfahrungen....
»Aber du freust dich darauf, endlich zu starten, oder?« Hannah zuckte ertappt mit den Schultern,...
Hannah bahnte sich ihren Weg durch die Buffetbelagerer und Kampfschaufler, die mit vollen Tellern...
Kaum saßen sie, wurden sie von einem jungen Mann, der kaum älter als achtzehn sein konnte, im...
»Danke, dass du mich mitgenommen hast.« »Ich habe dir doch versprochen, dass ich dir zeige, wie...
Freude über ihre baldige Heimkehr sah anders aus. Was in aller Welt war in Toronto nur...