»Danke, dass du mich mitgenommen hast.«

»Ich habe dir doch versprochen, dass ich dir zeige, wie wunderbar dieser Fleck Kanadas ist. Toronto hat natürlich seinen ganz eigenen Reiz, aber das hier, da kann nicht einmal Toronto mithalten.«

Hannah musste unweigerlich lachen. »Nein, so viel Ruhe würde die Stadt nicht ertragen.«

»Ich finde es schade, dass du morgen schon wieder fährst. Jetzt, da wir uns etwas besser kennengelernt haben.«

Nun wandte Hannah sich um, trat einen Schritt nach hinten, um einen besseren Halt zu finden, während sie Elizabeths Augen suchte. »Ja, irgendwie finde ich es auch schade. Es war klar, dass mein Aufenthalt von kurzer Dauer sein würde. Dass er allerdings so einen Eindruck hinterlässt, hätte ich nicht gedacht. Danke dafür, Elizabeth.«

Elizabeth winkte ab. »Nicht dafür!«

»Doch, genau dafür. Du hast mir so wunderbare Orte gezeigt, ich durfte die Menschen mit all ihrer Fröhlichkeit und Freundlichkeit erleben. Ich nehme diese Erinnerungen mit und sie werden mich immer begleiten.«

»Vielleicht willst du ja irgendwann zurückkommen.«

Hannah nickte. »Ja, ich denke, das kann ich mir gut vorstellen.«

»Vielleicht willst du ja nicht nur der anderen Menschen und der Natur wegen wiederkommen.«

Augenblicklich spürte Hannah, wie ihr trotz der Eiseskälte die Hitze in die Wangen stieg. Und mit ihr die Sprachlosigkeit.

Peinliches Schweigen trat ein, der Wind pfiff umso mehr und übertönte erbarmungsvoll zumindest ein kleines bisschen die Stille, die sich nun endgültig über diesen entlegenen Ort gelegt hatte.

Elizabeth wandte ihren Blick ab, sah wieder hinunter ins Tal. Hannah konnte ihr Gesicht nicht erkennen, sie hatte sich völlig von ihr weggedreht.

Oh Mann, sag was, Hannah! Du kannst sie doch nicht hier stehenlassen wie einen Idioten und dich damit selbst zum Idioten machen.

»Ich, ähm . . .«, begann sie, ohne eigentlich zu wissen, was sie sagen wollte.

Elizabeth stand wie versteinert.

Ein Räuspern, dann hob Hannah ihre Stimme etwas mehr. »Elizabeth, ich . . . ich hätte nicht gedacht, dass ich diese Zeit hier so genießen würde. Und das habe ich dir zu verdanken.«

Hannah sah, wie Elizabeth den Kopf sinken ließ, doch noch immer kehrte sie ihr den Rücken zu. Und dann sagte Hannah etwas, das sie selbst überraschte. Keine faule Ausrede, um sich aus der Situation zu winden, keine Ausflüchte, um der Peinlichkeit endlich ein Ende zu setzen. Nein, sie sprach einfach aus, was der Wahrheit entsprach, ob sie es selbst wollte oder nicht. Ob es was bedeutete oder nicht, wenn es überhaupt irgendetwas bedeutete.

Aber hier, in diesem Moment, an diesem Ort, in diesem kleinen Kosmos, in dem sie sich gerade befanden, die letzten Tage im Kopf, die schönen, unbeschwerten Erinnerungen, die Leichtigkeit, die sie so lange nicht verspürt hatte – all das mündete in der einen logischen Antwort: »Ja, ich würde auch dich gern wiedersehen.«

Ihre Worte hingen in der Luft wie dichter Nebel, der sich über beide legte. Ein leichtes Vibrieren machte sich in ihrer Magengegend breit, als ihr die Worte über die Lippen gekommen waren. Sie fühlte diesem Vibrieren nach, kehrte in sich und nahm erst wahr, dass Elizabeth sich aus ihrer Starre gelöst hatte, als sie knirschenden Schrittes auf Hannah zukam. In ihrem Blick lag etwas Undefinierbares.

Nur eine Armeslänge von Hannah entfernt blieb sie stehen und sah sie an. »Ich habe die Tage mit dir wirklich genossen. Als ich dich das erste Mal in der Bar getroffen habe, dachte ich, das wäre wohl eine einmalige, wenn auch in Erinnerung bleibende Begegnung. Und dann sah ich dich wieder und wieder. Es musste wohl so sein.« Sie hielt Hannahs Blick stand, deren Vibrieren zu einem immer heftigeren Brummen anwuchs. »Weißt du, ich fahre nicht mit jedem an diese Orte. Keine Ahnung, bei dir hat es sich irgendwie richtig angefühlt.«

Hannah nickte. »Ich nehme es auch nicht für selbstverständlich, hier sein zu dürfen. Das sind Orte, die dir viel zu bedeuten scheinen.«

»Es sind Orte mit einer besonderen Geschichte für mich.« Elizabeths Gesichtsausdruck veränderte sich, als sie das sagte. Er bekam etwas Undurchdringliches, das Hannah nicht deuten konnte. »Wir sollten uns auf den Rückweg machen. Es ist spät geworden«, schob Elizabeth schnell hinterher.

Hannah sah sie perplex an. Dieser Übergang ging ihr nun doch etwas zu schnell. »Familiengeschichten?«, hakte sie nach und ärgerte sich sogleich über ihre Neugierde.

Elizabeth war indessen bereits an ihr vorbei die Felsbrocken nach unten geklettert und durch den tiefen Schnee vorausgegangen, den Weg Richtung Auto einschlagend.

Hannah hatte Mühe, ihr auf dem unwegsamen Gelände zu folgen und konnte erst nach einer Weile zu ihr aufschließen.

»Wichtige Geschichten«, sagte Elizabeth nur, als sie schließlich die kleine Parkbucht erreichten. Sie öffnete den Kofferraum, griff nach Hannahs Rucksack, warf ihn hinein und ließ den Deckel mit einem Rumms zufallen.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?« Hannah regte sich keinen Zentimeter, dachte nicht daran, direkt ins Auto zu steigen. Ihr Atem ging schwer. Der Rückweg zum Auto hatte eher einem zackigen Kurzstreckenlauf als einer gemütlichen Winterwanderung geglichen.

Elizabeth blieb vor der geöffneten Fahrertür stehen, blickte über das Autodach zu Hannah herüber und schien mit sich zu ringen. »Ich glaube dir, dass du mich gern wiedersehen würdest, dass du hierher zurückkommen würdest.«

»Aber?«, fragte Hannah.

»Du wirst es nicht tun.«

Hannah warf Elizabeth einen fragenden Blick zu, der eindeutig genug zu sein schien.

»Du bist nicht frei.«

9

Sie war aufgekratzt. Nicht dieses positive, antreibende Gefühl, vielmehr ein nervenzehrendes, ungeduldiges.

Mit der freundlichen Hilfe von Jeff, einem guten Freund von Sarah und Nachbarn der Pension, gelang es ihr nach mehreren Anläufen, ihren über Tage tiefgefrorenen Bus zu starten.

Stotternd und hustend hatte er sich irgendwann seinem Schicksal ergeben und tat, was er tun sollte. Der Motor lief, die Scheiben waren freigekratzt und ihr Gepäck sicher verstaut.

Der Abschied von Sarah war kurz und herzlich, sie wollte einfach nur noch schnell weg. Dass sie dann von ihrem treusten Begleiter ausgebremst wurde, ließ ihren Puls nach oben schnellen.

Die gestrige Heimfahrt war an Anspannung kaum zu überbieten gewesen. Elizabeth wechselte nur wirklich notwendige Worte, die Strecke zog sich wie Kaugummi.

Woher Elizabeth wusste, dass Hannah nicht frei war, obwohl sie das nie erwähnt hatte, zumindest nie direkt ausgesprochen hatte, war ihr ein Rätsel. Die ganze Frau war ein Rätsel. Ein Rätsel, das ihr keine Antworten mehr auf ihre Fragen gestattete.

Irgendwann hatte es Hannah aufgegeben, hatte die Stille zwischen ihnen ertragen, in der Hoffnung, dass die Straßen sie schnell zurück nach Beaver Peak bringen würden.

In manchen Momenten hatte sie das Gefühl, Elizabeth könnte in ihr lesen wie in einem offenen Buch und konnte sich dadurch weitere Fragen sparen. Und das ärgerte Hannah.

Elizabeth selbst war undurchschaubar, ließ kaum tiefer blicken. Die Vertrautheit, die in den vergangenen Tagen zwischen ihnen gewachsen war, war innerhalb weniger Augenblicke in sich zusammengefallen. Was blieb, war das, was sie im Grunde tatsächlich füreinander waren: völlig Fremde.

Als Elizabeth Hannah vor der Pension abgeliefert hatte, half sie ihr zwar, ihr Gepäck auszupacken, doch dann konnte sie gar nicht schnell genug wieder in ihren Wagen steigen und davonbrausen.

Und als wäre das nicht schon genug gewesen, konnte Hannah in der Pension weiterhin Lauren in Toronto nicht erreichen. Auf ihrem Handy fand sie bei ihrer Ankunft nur eine kurze mickrige Nachricht: Mach dir keine Umstände, wir sehen uns morgen ohnehin wieder. Lass uns dann reden. Fahr vorsichtig!

Jenny Green: Die Farbe von Freiheit

1 »Kennen Sie das Gefühl, als würden Sie zwischen zwei . . . keine Ahnung, wie ich es genau...
Hannah nickte. »Morgen sieht es bestimmt besser aus.« Sarah nahm die Brille vom Kopf und legte sie...
»Kann man denn irgendetwas tun, irgendwie helfen, oder . . . ich weiß auch nicht. Hier herumsitzen...
Sie kannte dieses Gefühl, auch wenn es ein entferntes, lange nicht angetroffenes Gefühl war. Nein,...
»Also eigentlich ist die Frühstückszeit ohnehin um, von daher nimm dir gern von dem, was noch da...
Das Stimmengemurmel der anderen Gäste war wie Musik in Hannahs Ohren. So oft hatte sie früher...
Was beide jedoch teilten, war die Liebe zum Leben, zu neuen Abenteuern und neuen Erfahrungen....
»Aber du freust dich darauf, endlich zu starten, oder?« Hannah zuckte ertappt mit den Schultern,...
Hannah bahnte sich ihren Weg durch die Buffetbelagerer und Kampfschaufler, die mit vollen Tellern...
Kaum saßen sie, wurden sie von einem jungen Mann, der kaum älter als achtzehn sein konnte, im...
»Danke, dass du mich mitgenommen hast.« »Ich habe dir doch versprochen, dass ich dir zeige, wie...
Freude über ihre baldige Heimkehr sah anders aus. Was in aller Welt war in Toronto nur...