Freude über ihre baldige Heimkehr sah anders aus. Was in aller Welt war in Toronto nur vorgefallen? Lauren musste doch wissen, dass sie sich Sorgen machen würde.
Als sie auch Andy nicht erreichen konnte, fand sie es für das Beste, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und zu hoffen, dass die Nacht schnell vorübergehen würde. Sie wollte einfach nur noch weg, nach Hause.
Pauls Röcheln und Stottern gab ihr dann schließlich den Rest. Als hätte er ihre Anspannung gerochen, begann er zum allerersten Mal, seit er Hannahs treuer Begleiter war, aufzumucksen.
Dass sie sich dann auch noch mehrmals vertippte, das Navi immer wieder eine kleine Ewigkeit brauchte, bis es die Strecke neu berechnete, ließ sie leise Selbstbeschwörungssätze vor sich hinmurmeln. In ein paar Stunden würde alles gut sein. Zu Hause würde sich alles aufklären.
Sie stellte die Heizung auf Anschlag, drehte die Musik laut und scherte nach einem Blick über die Schulter auf die Straße aus. Mach es gut, du seltsames Intermezzo!
Erst als sie auf dem Highway Toronto näher war als Beaver Peak, entspannte sie sich langsam. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Am Big Apple, einer großen Apfelplantage, würde sie halten und Laurens Lieblingsapfelkuchen einpacken. Das Ganze würde sie mit einer kleinen Kaffeepause verbinden und sich die Beine vertreten. Dann würden die letzten Kilometer nach Toronto nur noch ein Klacks sein.
Sie setzte den Blinker, fuhr vom Highway ab und parkte kurze Zeit später auf dem so vertrauten Schotterparkplatz. Schon oft war sie für eine kleine Auszeit hierhergekommen.
Hannah schwang sich aus dem Bus und streckte sich. Ihre Beine taten weh. An die ›kurzen‹ Strecken in Kanada hatte sie sich erst einmal gewöhnen müssen. Hier war nichts gerade mal so ums. Eck. Andererseits fühlte sich alles dafür wie eine einzige große Reise an, und dieses Gefühl wiederum liebte sie.
Wenig später stieg ihr bereits der köstliche Duft warmen Apfelkuchens in die Nase. Hannah sog den Duft in sich auf. Ein kleines Paradies auf Erden. Sie bestellte einen Kaffee für sich und ließ mehrere Stücke des Apfelkuchens für die Heimfahrt einpacken.
Dann setzte sie sich an ein kleines Tischchen im Eck und beobachtete die Menschen um sich herum. Hektische Touristengruppen, Kinder, die herumtollten, aber vor allem viele zufriedene Gesichter.
Je näher sie ihrem Zuhause kam, desto mehr entspannte auch sie sich. Ob sie ein ebenso zufriedenes Gesicht machte? Das vielleicht noch nicht, aber sie hatte nicht mehr das Bedürfnis, wie ein Hamster im Laufrad hetzen zu wollen. Sie hatte das Zepter wieder selbst in der Hand.
Also dann, auf in die letzte Etappe. Mit dem Kuchen in der Hand stand Hannah auf, blickte ein letztes Mal zurück in die offene Backstube und verließ mit großen Schritten Big Apple.
Der Innenraum ihres Busses roch herrlich nach Apfelkuchen. Konzentriert lenkte sie ihren Bus in die Tiefgarage und in eine der etwas zu engen Parklücken der einzelnen Appartements. Als sie den Motor abstellte, legte sie den Kopf in den Nacken und seufzte. »Endlich!«
Ohne auch nur eine Tasche mitzunehmen, griff sie lediglich nach dem Apfelkuchen auf dem Beifahrersitz und verließ die Tiefgarage über den Aufzug, der direkt in die obersten Stockwerke und Wohnungen führte. Der vertraute Geruch, dieser typische Geruch nach Tiefgarage, Aufzug und Zuhause übertrumpften den Kuchen um Welten.
Das Hochgefühl in ihr stieg wie die roten Zahlen der Stockwerkanzeige. Endlich wieder hier zu sein, ließ die vergangenen Tage schon jetzt beinahe surreal anmuten.
Die Aufzugtüren öffneten sich, Hannah entfloh der kleinen Kabine und flog beinahe lautlos über den dunkelroten Teppich in den Gängen. Nur noch wenige Schritte, das Klacken des Schlüssels im Schloss. Sie war zu Hause!
Hannah schwang die Tür auf und trat in die Wohnung. »Lauren? Ich bin wieder da!«, rief sie laut, doch in der Wohnung blieb es still.
Sie ging ein paar Schritte weiter, stellte den Kuchen ab, warf den Schlüssel in ein kleines Schälchen und wiederholte etwas lauter: »Lauren?«
Keine Reaktion.
Hannah lauschte angestrengt und ging dann von Zimmer zu Zimmer, als sie keine Antwort erhielt.
Perplex blieb Hannah schließlich im großen Wohnzimmer vor dem Kamin stehen. Seltsam. Sie war davon ausgegangen, dass Lauren hier sein würde, wenn sie nach Hause kam. Sie hatte ihr extra noch die genaue Ankunftszeit durchgegeben. Zwar hatte sie darauf keine Antwort erhalten, aber irgendwie war es für sie selbstverständlich gewesen, Lauren in der Wohnung anzutreffen.
Hannah ließ sich auf das große Sofa fallen, streifte ihre Schuhe ab und ließ die Beine über der Lehne baumeln, den Blick zum großen Panoramafenster hinausgerichtet, das den Blick auf einen Teil von Downtown freigab.
Erst jetzt bemerkte sie, wie erschöpft sie eigentlich war. Ihr Körper fühlte sich schwer, der Kopf matschig an. Die Kissen dafür umso weicher. Nein, Aufstehen war keine Option. Den Bus konnte sie auch am Abend noch ausräumen.
Sie merkte, wie ihr Körper sich immer schwerer in die Kissen schmiegte. Mit den Füßen angelte sie nach der Decke am Sofaende.
Ein klirrender Schlüsselbund auf Metall riss sie aus ihrem tiefen Schlaf. Sie fuhr nach oben und wusste für einen kurzen Augenblick nicht, wo sie war. Aus noch unscharfen Augen musterte sie ihre Umgebung. Erst langsam kam die Erinnerung zurück, dass sie auf dem Sofa eingeschlafen sein musste. Sie rieb sich Augen und Stirn.
Dann erst wurde ihr bewusst, was oder besser wer sie geweckt hatte. Schnell und etwas ungelenk schälte sie sich aus der Decke, strampelte sie von sich und stand auf. Haare und Klamotten zurechtzuppelnd lauschte sie den Schritten, die näherkamen.
Und dann endlich war sie da!
So wunderschön.
So elegant in ihrer Lieblingsbluse.
So grimmig dreinblickend, dass es Hannah eher deshalb die Sprache verschlug.
Unschlüssig schaute Hannah Lauren einfach nur an, die in der Tür stehengeblieben war.
»Du bist zurück«, sagte sie so emotionslos, dass Hannah meinen konnte, ein Double hätte sich in ihre Wohnung verirrt. Doch nicht nur ihre Worte, auch ihr Blick wirkten leer.
»Hallo, mein Schatz«, antwortete Hannah vorsichtig und wartete Laurens Reaktion ab, vergeblich.
Lauren legte ihre Tasche auf den Esstisch, nahm ihre Armbanduhr ab und legte sie daneben.
Nach Tagen der Trennung hatte sich Hannah die Wiedersehensfreude anders vorgestellt. Ihre eigene Freude schrumpfte auf ein Minimum. Sie hatte das Gefühl, sich nicht freuen zu dürfen.
Sie ging ein paar Schritte auf Lauren zu, die an den Esstisch gelehnt stehengeblieben war. »Hast du meine Nachricht nicht bekommen?«, fragte Hannah vorsichtig.
»Doch, klar. Aber das heißt ja nicht, dass ich deshalb um diese Zeit zu Hause bin.«
Hannahs Magen verkrampfte sich. Natürlich musste Lauren nicht springen, wenn sie nach Hause kam. Aber was um alles in der Welt wurde hier gespielt? Das war doch nicht ihre Lauren, die gerade so reserviert vor ihr stand.
»Was ist los, Lauren? Du wirkst so angespannt.« Langsam traute sich Hannah näher und streckte ihre Hand aus, um Laurens Wange zu streicheln, doch diese wich aus.
»Stressiger Arbeitstag.«
Ungläubig sah Hannah sie an. »Stressiger Arbeitstag? Dein Laden war doch heute zu?«
Lauren seufzte. »Eine Panne vor der morgigen Hochzeit, wir mussten den Blumenschmuck noch einmal neu binden, während die Braut wie eine Furie durch den Laden tobte.«
Hannah nickte. Okay, das war eine Erklärung. Doch selbst die größten Furien hatten Lauren bisher nie derart aus der Fassung gebracht. Diese Bridezilla hatte offensichtlich neue Dimensionen angenommen.
»Habt ihr denn alles geschafft?«, fragte Hannah mit gezwungen ruhiger Stimme.
Nach der Wasserflasche am Tisch greifend nickte Lauren. »Alles gut, der Auftrag ist erledigt.«
Hannah versuchte ein kleines Lächeln, als Lauren sie endlich wieder ansah. »Ich habe mich auf dich gefreut.«
Laurens Miene blieb unverändert. »Ich mich auch. Aber . . . sei mir nicht böse, ich würde jetzt gern duschen gehen.« Dann drehte sie sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort Richtung Flur.
Als hätte sie einen Faustschlag in die Magengegend bekommen, blieb Hannah zurück. Hier stimmte doch etwas ganz und gar nicht! Und sie würde herausbekommen, was es war.
ENDE DER FORTSETZUNG