Hannah nickte. »Morgen sieht es bestimmt besser aus.«

Sarah nahm die Brille vom Kopf und legte sie auf den Tresen. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Aber keine Sorge, Sie können das Zimmer gern länger bewohnen.«

»Länger bewohnen?« Hannah riss die Augen auf und war mit einem Mal wieder hellwach. »Ich muss morgen weiter, ich habe Termine, ich kann nicht länger bleiben.«

»Ihr jungen Leute und eure Termine«, entgegnete Sarah, stützte sich auf dem Tresen auf und stand auf. »Das Leben hier draußen schert sich oft wenig um Termine. Die Natur macht, was sie will, und der Mensch lebt am besten damit, wenn er sich diesem Takt fügt. So etwas kann wahrlich entspannend sein. Versuchen Sie es doch einfach mal.«

»Entspannend«, murmelte Hannah vor sich hin und vor ihrem inneren Auge drehten sich die kommenden Tourdaten und Promotermine wild im Kreis. Sie sah das Chaos bereits vor sich, und Andys bellende Stimme hallte ihr in den Ohren, wenn sie nur an seinen rasant steigenden Blutdruck dachte, den eine einzelne Terminverschiebung in seinem bis ins Letzte ausgeklügeltem System anrichten würde. Andy war vieles, aber nicht entspannt. Wie sollte sie also entspannt sein?

Hannah war wie erstarrt im Eingangsbereich der Pension stehengeblieben. Ihre nassen Stiefel hatten einen unschönen Fleck auf dem Teppich gebildet. Am liebsten wäre sie in eben dieser Pfütze versunken und erst wieder aufgetaucht, wenn dieser Albtraum vorbei war.

2

Sie hörte, wie er sich zur Ruhe zwang. Die dezente Panik in seiner Stimme konnte er jedoch nicht kaschieren. Das nervöse Flattern war in jeder einzelnen Pause zu spüren, die er zwangsweise einlegen musste, um nach Luft zu schnappen. »Hannah, Darling, wie stellst du dir das denn bitte vor?«

»Ich kann ja nach dem nächsten Schlittenhundegespann Ausschau halten«, seufzte Hannah. Was dachte Andy denn? Dass sie sich abgesetzt hätte, um ein paar Tage Urlaub einzulegen? Wellness im Schnee bei wohligen minus fünfzehn Grad? Spüren Sie die Stiche der Eiskristalle auf der Haut und Sie werden sich wie neugeboren fühlen! Verdammt, sie wäre jetzt auch lieber in Toronto, in ihrer Wohnung, in ihrem Bett. In ihrer eigenen kleinen Höhle.

»Ginge das denn?«

»Andy!«, fuhr Hannah ihn schärfer an als beabsichtigt und nahm ihr Smartphone kurz vom Ohr, um durchzuatmen. Manchmal machte sie dieser Mann rasend.

»Bis wann kannst du zurück sein?«, fragte er nun etwas kleinlauter, wenn auch nicht weniger aufgebracht. »Ich versuchen, deine Termine zu verlegen, und hoffe, dass wir keine Probleme bekommen. Aber ich kann nicht zaubern.«

»Es ist ja nicht so, als würde ich die Termine nicht einhalten wollen. Aber im Winter durch Kanada zu touren, ist kein Garant dafür, dass alles reibungslos abläuft. Das war uns doch vorher klar. Früher oder später musste so etwas passieren. Das müsste doch auch den Veranstaltern klar sein, oder nicht?«

»Wie lange denkst du denn, dass du festsitzen wirst? Wo genau steckst du eigentlich?«

Hannah zuckte mit den Schultern, dann fiel ihr ein, dass Andy das ja gar nicht sehen konnte. Sie brauchte Schlaf, sofort! »Die Wetterprognosen sind leider nicht so eindeutig, aber aktuell alles andere als rosig. Ich denke ein paar Tage, bis zumindest die Straßen wieder sicher befahrbar sind und ich nicht im nächsten Ort und der nächsten Pension eine weitere Zwangspause einlegen muss. Ich schicke dir meinen Standort später durch. Es müssten in etwa noch vier, na ja eher fünf Stunden bis Toronto sein.«

»Also gut, ich rechne mit einer Woche, ich muss den Veranstaltern verlässliche Aussagen machen. Lieber plane ich einen Puffer ein. Und irgendwie bringen wir dich schon hierher, ehe die neue Woche anbricht.« Andy legte eine kurze Pause ein. »Manchmal hasse ich meinen Job, Hannah.«

»Tust du nicht«, lächelte Hannah versöhnlich, dann legte sie auf.

Erst jetzt merkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte, die nassen Klamotten klebten an ihr wie eine zweite Haut. Schnell schälte sie sich aus der beklemmenden Hülle, warf sie über die Heizung, die auf höchster Stufe bullerte, und verschwand im Bad. Sie hatte das Gefühl, sich diesen Tag vom Körper waschen zu müssen.


Wildes Stimmengemurmel drang durch das Treppenhaus nach oben, als Hannah sich nach kurzem, aber komatösem Schlaf auf den Weg zum Frühstück machte.

Als sie die Stufen nach unten stieg und um die Ecke spähte, sah sie, dass die kleine Lobby mit einer großen Gruppe Menschen gefüllt war, die aufgebracht durcheinanderredeten. Ein Hühnerhaufen schien nichts dagegen zu sein.

Mittendrin Sarah, immer noch ihre gestrickte Decke um die Schultern, als hätte sie die ganze Nacht ihren Wachposten hinter der Rezeption nicht aufgegeben. Obwohl um sie herum das reinste Chaos tobte, wirkte sie so tiefenentspannt und ruhig, dass es eine Wohltat war, sie zu sehen.

Hannah überlegte kurz, ob sie sich ins Getümmel stürzen oder lieber den Rückwärtsgang einlegen sollte, als sich ihr Magen lautstark zu Wort meldete.

»Nein, Ihr Bus kann heute nicht weiterfahren!«, hörte Hannah Sarah auf ein Grüppchen älterer Herrschaften einreden. »Ich habe gerade mit Ihrem Veranstalter gesprochen, Sie können hier in der Pension bleiben. Wir müssen alle abwarten.«

»Aber wir haben die Rundreise gebucht und haben dafür bezahlt, alles zu sehen, was auf dem Plan steht«, beschwerte sich einer der Herren, die Brust angriffslustig geschwellt, die Schultern gestrafft, seine Frau beschützend zur Seite genommen.

Hannah schüttelte innerlich den Kopf.

»Tja, mein Herr, dann bekommen Sie jetzt und exklusiv die wahre Erfahrung eines kanadischen Winters. So etwas finden Sie in keinem Reiseprospekt und es wird nur besonderen Menschen zuteil«, konterte Sarah und ließ den Mann, der um Fassung rang, stehen. Touché!

Hannah stand immer noch mehrere Stufen über dem Geschehen und betrachtete die Szenerie wie einen Film. Fehlte nur der Superheld, der just in diesem Moment durch die Tür trat und Frauen und Kinder zuerst rettete. Wobei sie ihre persönliche Superheldin bereits in Person von Sarah gefunden hatte.

Als sich Sarahs und Hannahs Blicke trafen, hob Sarah kurz die Hand zum Gruß und deutete lächelnd Richtung Frühstücksraum.

Hannah nickte, lächelte ebenfalls und warf sich dann wagemutig in die Menge, um sich zum Frühstücksraum durchzuschlagen.

Der Blick durch das Fenster war niederschmetternd. Schnee, Schnee, Schnee.

Hannah stellte sich ein kleines Frühstück am Buffet zusammen und setzte sich.

»Wissen Sie, was in einer solchen Situation das Wichtigste ist?«

Hannah sah auf und legte ihren Toast beiseite. Ein älterer Mann, vielleicht Mitte sechzig, mit grau melierten Haaren und weißen, buschigen Augenbrauen über gütigen Augen, lächelte sie mit einer silbernen Kanne in der Hand an.

Perplex schüttelte Hannah den Kopf.

»Der Kaffee darf nicht versiegen«, lächelte der Mann und schwenkte die Kanne. »Darf ich Ihnen nachschenken?«

Hannah hielt ihm dankbar die Tasse hin. »Balsam für die Seele«, erwiderte sie ebenfalls lächelnd und wartete, bis der Mann die Tasse bis knapp unter den Rand gefüllt hatte.

»Hatten Sie denn vor, länger zu bleiben?«, fragte er und mit jedem Wort tanzten seine Augenbrauen.

»Nein, eigentlich wollte ich schon längst in meinem Bus Richtung Toronto sitzen.«

»Das tut mir leid, die Winter hier sind unberechenbar. Und bei diesen Schneeverwehungen ist man machtlos. Und doch ist es der schönste Ort, den ich mir vorstellen kann.« Er schmunzelte und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als Hannah ihn aufhielt.

Jenny Green: Die Farbe von Freiheit

1 »Kennen Sie das Gefühl, als würden Sie zwischen zwei . . . keine Ahnung, wie ich es genau...
Hannah nickte. »Morgen sieht es bestimmt besser aus.« Sarah nahm die Brille vom Kopf und legte sie...
»Kann man denn irgendetwas tun, irgendwie helfen, oder . . . ich weiß auch nicht. Hier herumsitzen...
Sie kannte dieses Gefühl, auch wenn es ein entferntes, lange nicht angetroffenes Gefühl war. Nein,...
»Also eigentlich ist die Frühstückszeit ohnehin um, von daher nimm dir gern von dem, was noch da...
Das Stimmengemurmel der anderen Gäste war wie Musik in Hannahs Ohren. So oft hatte sie früher...
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Freude über ihre baldige Heimkehr sah anders aus. Was in aller Welt war in Toronto nur...