»Kann man denn irgendetwas tun, irgendwie helfen, oder . . . ich weiß auch nicht. Hier herumsitzen macht es jedenfalls auch nicht besser.«
Der Mann, dessen Name wohl Samuel lautete, Hannah tat sich schwer, das kleine Namensschild zu lesen, zuckte mit den Schultern. »Draußen braucht es schweres Gerät und ansonsten einfach viel Geduld, bis der Schneefall endlich leichter wird. Warum genießen Sie nicht einfach die Ruhe? Holen Sie sich ein Buch vorn aus dem Regal«, er deutete Richtung Lobby, »und legen Sie die Beine hoch. Nichtstun kann auch erfüllend sein.« Er zwinkerte und machte sich dann endgültig auf den Weg zum nächsten Tisch.
»Nichtstun«, seufzte Hannah. Allein der Gedanke daran ließ sie hibbelig werden. Nein, sie wollte nicht einfach nur herumsitzen und darauf hoffen, dass der Himmel endlich Erbarmen mit ihnen hatte.
Als sie wenig später wild entschlossen mit halbwegs trockenen Stiefeln, den Schal bis unter die Augen gezogen, erneut in der Lobby aufkreuzte, sah Sarah, die den morgendlichen Hurrikan unversehrt überstanden hatte, Hannah ungläubig und etwas belustigt an.
Hannah verlangsamte ihren Schritt und blieb an der Tür stehen. »Ich weiß schon, was Sie denken.«
»Ach ja?« Sarah lachte. »Was denke ich denn?«
»Dass diese irre Großstädterin endgültig den Verstand verloren hat, nachdem ihr die gestrige Nacht nicht genug in alle Knochen gefahren war.«
Sarah wiegte den Kopf hin und her. »Warum um alles in der Welt wollen Sie denn wieder hinaus in die Kälte?«
»Weil mir die Decke auf den Kopf fällt.«
»Nach einer Nacht?«
»Nach einer Nacht!«
Sarahs Augen weiteten sich ungläubig. »Was machen Sie noch mal beruflich?«
»Ich bin Musikerin, aber was tut das hier zur Sache?«
Sarah nickte und murmelte etwas.
Hannah verstand nicht und ging ein paar Schritte auf Sarah zu, die sich wieder hinter den Tresen zurückgezogen hatte. »Entschuldigung, können Sie das bitte wiederholen?«
»Sie sind eine rastlose Seele. Eine Künstlerseele.«
»Eine rastlose Seele?« Hannah wollte diese Behauptung mit einem Lachen von sich weisen, doch das Lachen blieb ihr im Hals stecken.
»Meine Menschenkenntnis hat mich selten getäuscht«, fügte Sarah hinzu und setzte sich die Brille zurück auf die Nase, ehe sie in einem Papierstapel zu wühlen begann.
»Wirklich stillsitzen können Sie aber auch nicht«, konterte Hannah und deutete mit einem Nicken auf den etwas chaotischen Stapel.
Mit einer hastigen Handbewegung winkte Sarah ab. »Ich weiß, wann ich meine Ruhepausen brauche.«
Hannah nickte, war sich aber alles andere als sicher, ob sie dieser Aussage Glauben schenken sollte. Aber wahrscheinlich hielt Sarah es auch hier wie die Natur. Auf stürmische Zeiten folgten ruhige, auf eiskalte Tage warme und entspannte.
»Wo finde ich eine Schaufel oder einen Besen?«
»Fragen Sie Ted. Er räumt gerade hinter dem Haus einen kleinen Weg zum Lieferanteneingang frei. Als würde ausgerechnet jetzt jemand etwas liefern wollen.« Sarah schüttelte den Kopf, zog das gesuchte Blatt aus dem Stapel und verschwand durch die Tür in das kleine Hinterzimmer hinter der Rezeption.
Entschlossen zog Hannah den Reißverschluss ihrer Jacke die letzten Millimeter nach oben, schlang den Schal vors Gesicht und fasste mit der rechten Hand an den Türgriff. Also los, so schlimm konnte es nicht sein.
Mit einem Ruck riss Hannah die Tür auf, die hereinstürmende Schneefront tat dasselbe beinahe mit ihr, und für einen kurzen Augenblick konnte Hannah nicht atmen, der Wind peitschte in ihr Gesicht, Schneeflocken verschleierten die Sicht.
Sie brauchte einen Moment, um der Lage Herr zu werden, ehe sie festen Schrittes, dem Gegenwind trotzend, nach draußen auf die Straße trat und die Tür der Pension hinter sich zuzog. Die Winter in Deutschland waren ein Fliegenschiss gegen diese Naturgewalt. Warum war sie nicht an die Küste nach Vancouver gezogen?
Doch das Wetter, so scheußlich es auch war, schreckte sie weniger ab als der Gedanke daran, untätig in ihrem kleinen Pensionszimmer zu sitzen. Nichts gegen einen gemütlichen Abend mit einem guten Buch in die Laken gekuschelt, aber den ganzen Tag nichts Produktives zu bewerkstelligen, fühlte sich dann doch wie Lebenszeitverschwendung an.
Und ja, sie wusste, dass das nicht unbedingt gesundheitsfördernd war. Nicht auf Dauer. Aber dauernd war nicht immer und alles hatte seine Phasen.
Mit einem Besen bewaffnet und einem eisernen Willen, der jeden kleinsten Muskel ihres Körpers anspannte, stand Hannah kurz darauf vor ihrem Tagwerk. Irgendwo unter diesem Berg musste ihr Bus stehen. Irgendwo darunter war ihr kleiner Rückzugsort mit einigen Annehmlichkeiten, die es nun freizulegen galt.
Mit einem innerlichen Kampfschrei riss Hannah den Besen in die Luft und begann übermütig, eine Schneeschicht nach der anderen vom Berg zu schaben. Ungeachtet dessen, dass ihr halbes Werk ohnehin in Minutenschnelle wieder zunichtegemacht werden würde. Aber sie hatte keine Lust aufzugeben, sie würde diesem Berg Herr werden.
Es dauerte nicht lange und sie kochte wie ein Teekessel unter all den Schichten Klamotten, die sie anhatte. Über ihrem Kopf schien eine Rauchwolke gen Himmel zu steigen. Egal. Weitermachen.
Einfach weitermachen.
Weiterschippen.
Weiterschaben.
Weiterkämpfen.
Atmen. Zweifeln.
Egal, weitermachen.
Dass Hannah mittlerweile Gesellschaft bekommen hatte, merkte sie gar nicht. Viel zu sehr hatte sie sich in ihrem Tunnel verloren.
Weiterschippen.
Weiterschaben.
Weiterkämpfen.
Erst als sich eine Hand auf ihre Hände legte und den nächsten Versuch, ein weiteres Stück des Busses freizulegen, verhinderte, blickte sie auf. Ihr Atem bildete dichte Wolken.
Die bis obenhin eingemummelte Person, offensichtlich weiblich, musterte sie eingehend. Die Augen verrieten sie.
Hannah ließ den Besen sinken und versuchte, ihren Körper unter Kontrolle zu bringen. Sie bebte vor Anstrengung, während die Frau vor ihr so unglaublich gelassen wie ein Fels im Sturm wirkte, unumstößlich. Oder wäre eine Eisbergmetapher passender?
»Zumindest hat dieser Wintereinbruch einen Vorteil.«
Hannah sah sie fragend an.
»Sie konnten nicht so einfach die Stadt verlassen.« Die Frau lächelte und streckte Hannah die Hand entgegen.
Etwas ungelenk griff Hannah danach. Ihre Hände waren steif vor Kälte.
»Ich bin übrigens Elizabeth.«
»Hannah«, erwiderte Hannah, ihre Stimme zitterte immer noch vor Anstrengung.
»Warum um alles in der Welt willst du deinen Bus jetzt freischaufeln? Über Nacht wird deine ganze Arbeit wieder zunichtegemacht sein.«
»Ich wollte ein paar Dinge aus dem Bus holen.«
»Ein paar Dinge?«
»Meine Tasche mit Wechselklamotten zum Beispiel. Morgen werde ich wohl noch nicht losfahren können.«
Elizabeth lachte. »Wenn du Anfang der kommenden Woche starten kannst, würde ich sagen, hast du schon Glück.«
»Kommende Woche?« Hannahs Gesichtszüge schienen ihr endgültig zu entgleisen. Sofort sah sie Andys hochrotes Gesicht vor ihren Augen, in der Hand eine Papiertüte, hyperventilierend.
»Ich befürchte, ja, die aktuellen Prognosen sind leider nicht vielversprechend.«
Hannah konnte Elizabeths Gesichtsausdruck nicht richtig deuten. Irgendwie schwenkte er zwischen Bedauern und Freude.
Resigniert ließ Hannah den Besen vor sich in den Schnee fallen. Ihr war gerade nach kindlichem Trotzverhalten zumute, auf den Boden werfen und wild um sich schreien, doch sie hielt sich gerade noch zurück. »Na, bravo.«
»Mit dem Bus würde ich warten, bis der Schneefall leichter wird. Wegen der Klamotten brauchst du dir keine Gedanken zu machen, dafür findet sich eine Lösung. Du kannst nachher gern bei mir im Laden vorbeikommen und wir finden etwas für dich.«
Laden?
Nicht weitermachen.
Etwas finden?
Nicht weiterschippen.
Keine Gedanken machen?
Tatenlos dastehen und nichts tun können.
Hannah spürte dieses dumpfe, dunkle Kribbeln, zentriert, wie ein aufbrausender, anlaufnehmender Hurrikan, der sich in der Magengegend auszubreiten drohte.