Sie kannte dieses Gefühl, auch wenn es ein entferntes, lange nicht angetroffenes Gefühl war. Nein, nein, nein! Nicht jetzt!
Es verhieß nichts Gutes. Ganz und gar nicht.
Hannah nahm beide Daumen in eine Faust und knetete sie fest. Sie versuchte, einen anderen, einen klaren Gedanken zu fassen, doch die schwelende Bedrohung in ihr, in ihrem eigenen Körper, tat alles, um die Oberhand zu gewinnen.
In Windeseile bückte sich Hannah nach dem Besen, fahrig fuhr sie herum, sie sah von Elizabeth zur Pensionstür, zurück zum Bus, noch einmal zu Elizabeth und nahm dann ihr Ziel ins Visier.
»Du, also, ich, also ich muss los«, stieß Hannah hervor, dann beschleunigte sie aus dem Stand, stürmte auf die Pensionstür zu, schaffte es gerade noch, den Besen an die Mauer neben der Tür zu lehnen, und riss die Tür auf, um in die erhoffte Sicherheit zu fliehen.
3
Den Kopf an den kühlen Beckenrand gelehnt starrte Hannah an die Badezimmerdecke, deren blasses Grau wie ein schwerer wolkenbehangener Himmel über ihr hing. Weniger aus melodramatischen Gründen als vielmehr der Praktikabilität eines funktionierenden Handyempfangs geschuldet, hatte sie in der leeren Badewanne Platz genommen. Im leeren Zustand nicht ganz so bequem wie erhofft, doch frei von nervigen Störungen in der Leitung.
»Ich habe uns für Samstag einen Tisch im Green Bamboo reserviert. Tobi und Jason haben auch zugesagt. Weißt du, wie schwer es ist, dort einen Tisch zu bekommen?«
»Erst einmal muss ich es wieder zurück in die Stadt schaffen«, seufzte Hannah. »Gerade sieht es leider nicht so gut aus, wie erhofft.«
Die Anspannung, die vor wenigen Stunden überfallartig Besitz von ihrem Körper ergriffen und für völlig verkrampfte Muskeln gesorgt hatte, vom Pochen in den Schläfen ganz abgesehen, hatte zwar nachgelassen, doch wirklich weg war sie nicht. Sie schlummerte wie ein Tier auf der Lauer in einem dunklen Eck, bereit, erneut anzugreifen, wenn es nötig war.
Wie lange war es her, dass Hannah sich so gefühlt hat? Dass sie nichts gegen die Attacke tun konnte. Dass sie zwar die Anzeichen erkannte, versuchte, dagegenzusteuern, und doch dieses Mal, seit so langer Zeit, den Kampf verlor.
»Ich vermisse dich.«
Hannah musste lächeln. »Ich dich doch auch. Ich hasse es, hier festzusitzen.«
»Und nichts tun zu können«, ergänzte Lauren. Sie kannte Hannah einfach zu gut. »Kann ich denn irgendetwas für dich tun?«
»Den Privatheli schicken«, erwiderte Hannah und rieb sich mit einer Hand die müden Augen. »Nein, es tut gut, deine Stimme zu hören. Drück mir einfach die Daumen, dass dieses Wetter bald Erbarmen mit uns hat. Und dann komme ich so schnell ich kann nach Toronto. Vielleicht schaffe ich es ja bis Samstag. Und wenn nicht, genieße den Abend mit Jason und Tobi. Ich weiß doch, wie lange du schon in dieses Restaurant willst. Lass dir das nicht von mir oder den Umständen verderben.«
»Ich kann’s kaum erwarten, dich wieder hier zu haben«, sagte Lauren leise und fügte dann mit fester, heiterer Stimme hinzu: »Außerdem machen diese ganzen Vorbereitungen ohne dich keinen Spaß. Ich will mit dir gemeinsam Torten probieren, kitschige Deko aussuchen und die Musik wähle ich ganz sicher nicht allein aus, das wird sonst eine Katastrophe.«
Lauren wusste, wie sie Hannahs Anspannung zum Bröckeln bringen konnte. Langsam entspannten sich ihre Nackenmuskeln und das Ziehen in ihrem Kopf ließ nach. »Sobald ich zurück bin, nehmen wir das alles in Angriff. Du musstest schon so lange warten.«
»Deine Tour geht vor, darauf haben wir uns geeinigt, ich wusste ja, worauf ich mich einlasse. Ich darf mich also nicht beschweren.«
»Ein paar Monate noch und dann nehme ich mir eine Weile eine Auszeit. Die letzten Jahre waren unglaublich anstrengend und kräftezehrend.«
»Umso wichtiger, dass du nach all den Jahren endlich die Chance bekommen hast, deine Tour zu starten. Ohne die Pandemie wärst du längst in aller Welt unterwegs. Also andererseits hatte die Sache auch etwas Gutes, ich hatte dich bei mir.«
Hannah nickte, auch wenn Lauren das nicht sehen konnte. »Woher nimmst du nur all das Verständnis für mich? Für meine Träume, meinen Dickkopf, für all die wenige Zeit, die ich erübrigen kann?«
»Weil es sich lohnt, auf etwas Gutes zu warten«, antwortete Lauren, doch plötzlich einsetzendes Stimmengewirr im Hintergrund ließ ihre Aussage halb untergehen. »Hannah, ich muss Schluss machen, Kundschaft. Ich melde mich bei dir.«
Aufgelegt.
Hannah ließ die Hand sinken und schloss die Augen. Das dunkle Grummeln in ihr war weg, dumpfe Leere füllte nun den Raum aus, den es zurückgelassen hatte. Nun gut, sie würde morgen Elizabeths Angebot annehmen. Sie hatte etwas Ablenkung dringend nötig und vor allem brauchte sie Wechselklamotten und eine Waschmaschine. Trockene Schuhe wären auch nicht die schlechteste Wahl. Keine Ahnung, was Elizabeth heute nach ihrem überstürzten Abgang von ihr zu halten schien, doch das alles musste sie erst morgen wieder interessieren.
Nicht heute. Nicht jetzt.
Kurz öffnete sie die Augen, startete das angefangene Hörbuch auf ihrem Smartphone, schob sich ein Handtuch unter den Kopf und beschloss, dass diese Badewanne ihr Ort für die nächsten fünf Kapitel bleiben sollte, während die angenehm sanfte und doch markante Frauenstimme der Sprecherin sie forttrug.
Adieu Welt. Bis morgen. Vielleicht.
Wie konnte sie nur so dämlich sein und in dieser unbequemen Wanne einschlafen? Sie war keine zwanzig mehr und selbst dann wäre diese Schüssel, die das halbe Badezimmer in Beschlag nahm, der unbequemste Ort, den man sich vorstellen konnte.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht knetete sie mit der rechten Hand den linken Schultermuskelstrang. Jede kleinste Bewegung war eine Qual. Stück für Stück versuchte Hannah, sich aus ihrem Übel zu befreien. Ihr Körper war stocksteif und das Aufstehen glich einer Zeitlupenaufnahme.
Die Haare standen ihr wirr ins Gesicht, als sie endlich beide Beine außerhalb der Wanne auf den Boden brachte und in den kleinen Wandspiegel starrte. Um Himmels willen, wer war diese Frau, die ihr da entgegensah?
Mit der rechten Hand wuschelte Hannah durch ihre Haare, der Dutt rutschte endgültig ins Nirwana. Sie drehte den Wasserhahn auf und schöpfte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Der anschließende Blick auf ihr Smartphone verriet, was sie bereits ahnte: halb fünf Uhr morgens. Die letzten Tage hatten sie so geschlaucht, dass sie Stunden geschlafen haben musste, ohne auch nur einmal zu zucken.
Mehr als die Uhrzeit war dann selbst ihr Telefon nicht mehr gewillt zu geben.
Akku tot.
Die Powerbank für Notreserven ebenso.
Das Kabel – na klar – im Bus.
Hannah holte tief Luft. Sie war irgendwo im Nirgendwo gelandet, sie war nicht mehr erreichbar und niemand würde sie finden. Halt, doch, Andy. Und der würde sie schneller hier rausholen, als dass er noch weiter auf sie warten würde. Also gut, sie würde hier nicht einsam und allein für immer enden.
Erleichtert ob dieses Gedankens ließ sie sich in das himmlisch weiche Bett fallen, zog die Decke über den Kopf und der nur kurz unterbrochene Schlaf holte sie im Nu wieder ein.
»Kann ich den Kaffee und das Sandwich einfach mitnehmen?«, fragte Hannah eine junge Angestellte, die gerade die letzten Tische abräumte, als sie kurz vor Ende der Frühstückszeit in den kleinen Speiseraum gerauscht kam.
Die Frau sah sie etwas ungläubig an. »Also eigentlich . . .«, begann sie, als Sarah just in diesem Moment um die Ecke bog und sich zu ihnen gesellte.