Shannons Trauer um Ken würde vergehen, würde einem Gefühl der Akzeptanz weichen. Früher oder später.

Auch Tyne hatte das erlebt, wenn sie Kameraden verloren hatte, die fast so etwas wie ein Teil einer Ersatzfamilie für sie gewesen waren.

Sie hatte nie Trauer gezeigt, hatte einfach weitergemacht. Aber das hieß nicht, dass sie nie Trauer empfunden hatte. Vielleicht hätte sie es nicht so genannt, weil ihr oft die Worte fehlten für das, was so unter dem Überbegriff Gefühle lief.

Dennoch wusste sie, dass es so etwas gewesen sein musste. Auch wenn sie nicht viel damit anfangen konnte.

Es war die Erfahrung in dieser Hinsicht, die ihr fehlte. Immer schon gefehlt hatte. Vielleicht hatte sie als kleines Kind Erfahrungen mit Gefühlen gemacht, aber daran konnte sie sich nicht mehr erinnern.

Im Krieg machte man durchaus Erfahrungen mit Gefühlen, aber das war etwas anderes. Tyne wusste, was Angst war, auch wenn sie sich nicht davon leiten ließ. Es war dumm, keine Angst zu haben. Dann ging man viel zu große Risiken ein.

Ken war so ein Typ gewesen. Eigentlich hatte er vor gar nichts Angst gehabt. Und das hatte ihn umgebracht.

Und es hatte Shannon wahrscheinlich beeindruckt. Denn in Friedenszeiten kam so etwas gar nicht so schlecht an. Wenn nicht gleich das eigene Leben auf dem Spiel stand.

Tyne war viel zu vorsichtig, viel zu überlegt, was Risiken betraf. Sie hatte gelernt, dass man erst einmal alle Möglichkeiten abwägen musste. Unnötige Risiken einzugehen war das Ergebnis oft nicht wert.

Erst jetzt merkte Tyne, wie groß der Unterschied war zwischen Leuten, die gekämpft hatten, und denen, die zu Hause geblieben waren. In den letzten zwölf Jahren war sie nur mit Leuten zusammen gewesen, die den Kampf und den Krieg kannten.

Das war eine verschworene Gemeinschaft. Oft brauchte man noch nicht einmal Worte, um sich zu verständigen. Man wusste einfach, was Sache war und wovon der andere sprach. Weil man es selbst erlebt hatte.

Zivilisten waren in der Beziehung . . . gewöhnungsbedürftig. Wie sollte man sich mit jemandem verständigen, der noch nie eine Waffe in der Hand gehalten hatte, der noch nie geschossen hatte, der noch nie gespürt hatte, dass das eigene Leben an einem seidenen Faden hing? Nicht wusste, ob er den nächsten Tag überlebte oder nicht.

Dagegen waren die Sorgen im Zivilleben geradezu unbedeutend.

Dennoch waren Shannons Sorgen für sie sicherlich ebenso real, wie es Tynes Sorgen im Angesicht des Krieges gewesen waren, in dem sie jeden Tag um ihr Leben bangen musste.

Im Einsatz hatte Tyne viele Brücken gebaut, und das war vergleichsweise einfach gewesen, nachdem sie gelernt hatte, wie es gemacht wurde.

Man war an dem einen Ufer und wollte aufs andere. Eine konkrete Aufgabe, eine messbare Entfernung, bekannte Materialien und Maßnahmen. Werkzeuge, die man einsetzen konnte und von denen man wusste, was man damit erreichen wollte und dann auch erreichte.

Aber wie baute man eine Brücke zu einem Menschen?

Wie kam sie von ihrem eigenen Ufer zu dem von Shannon?

Selbst wenn es da Werkzeuge gab, Aufgaben, die zu erledigen waren, Maßnahmen, kannte sie sie nicht. Sie war darin genauso unwissend, wie sie es vor dem Bau ihrer ersten Brücke im Feld gewesen war.

Damals hatte ihr ihr Sergeant gezeigt, wie es ging.

Jetzt war sie selbst Sergeant, aber diese Art von Brückenbau konnte sie niemandem zeigen.

Nicht mal sich selbst.

10

Als Shannon erwachte, war es bereits heller Tag. Überrascht blickte sie zum Fenster hinaus in den strahlend blauen Himmel. So lange hatte sie ja seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen.

Ehrlich gesagt hatte sie in letzter Zeit zum Teil überhaupt nicht geschlafen. Manchmal ja, aber nur mithilfe eines Schlafmittels. Das hatte sie gestern Abend jedoch gar nicht genommen. Sie war einfach eingeschlafen.

Sie war einfach eingeschlafen. In Gedanken wiederholte sie den Satz noch einmal, weil er die größte Verwunderung in ihr auslöste.

Ein paar Minuten lag sie noch da, dann stand sie auf. Zum ersten Mal seit langer Zeit freute sie sich auf das Frühstück.

Auch dafür hatte sie – ebenso wie für Mittag- und Abendessen – alles Mögliche da, womit sie von allen Seiten versorgt worden war. Eier, Speck, sogar frisches Brot.

Nicht wirklich frisch. Ihre Mutter hatte es eingefroren, damit Shannon sich jederzeit eine Scheibe nehmen konnte, wenn sie Lust darauf bekam. Aber wenn man es in den Toaster steckte, schmeckte es wie gerade gebacken.

Als sie in die Küche kam, hob sie die Augenbrauen. Hier hatte schon jemand gefrühstückt. Und Kaffeebecher, Besteck und Teller abgewaschen. Eine Pfanne lag ebenfalls sauber im Geschirrgestell.

Anscheinend hatte Tyne dieselbe Idee fürs Frühstück gehabt wie Shannon. Ein wenig roch es noch nach gebratenem Speck.

Schade. Shannon nahm die Pfanne und stellte sie auf den Herd. Schade, dass Tyne nicht auf sie mit dem Frühstück gewartet hatte. Oder dass sie selbst nicht früher aufgewacht war. Es wäre schön gewesen, einmal wieder mit jemandem zusammen zu frühstücken.

Sie holte Butter, Eier und Speck aus dem Kühlschrank und das Brot aus dem Gefrierfach, nahm zwei Scheiben aus dem Beutel und steckte sie in den Toaster.

Während das Brot röstete, ließ sie den Speck knusprig ausbraten und schlug dann zwei Eier darüber. Als sie die Menge in der Pfanne sah, war sie im Zweifel, ob sie das überhaupt würde essen können, aber gleichzeitig begann sie zu lächeln.

Es war wie früher. Als Ken noch mit ihr am Frühstückstisch gesessen und sie das Frühstück für sie beide vorbereitet hatte. Für Ken hätten zwei Eier natürlich nie gereicht, aber die Pfanne war auch eine größere gewesen. So sah es in dieser kleinen Pfanne fast genauso aus wie die Portion, die sie immer für ihn zubereitet hatte.

Das Brot sprang aus dem Toaster, und sie steckte es nach einem schnellen Blick noch einmal hinein, weil sie vergessen hatte, den Auftauknopf zu drücken. So hatte es noch kaum Farbe angenommen.

Schon wollte sie einen Teller aus dem Schrank nehmen, da stockte sie. Hier war ja ein Teller. Und auch alles andere, was sie brauchte. Genau wie die Pfanne. Es waren die Sachen, die Tyne benutzt hatte.

Warum zögerte sie, sie zu benutzen? Sie musste über sich selbst lachen. Das war irgendwie komisch.

Entschlossen stellte sie die Sachen auf den Tisch und ließ dann das Brot erneut aus dem Toaster springen. Jetzt war es schön hellbraun. So, wie sie es mochte.

Eier und Speck gesellten sich zu dem Brot auf dem Teller, und sie setzte sich. Den Kaffee würde sie erst später aufbrühen. Auf einmal hatte sie großen Hunger.

Doch da fiel ihr Blick auf die Kaffeekanne. Da war ja schon Kaffee. Sie hob die Augenbrauen. Das Lämpchen zeigte an, dass die Warmhalteplatte noch eingeschaltet war und den Kaffee heiß hielt.

Tyne. Sie lächelte erneut. Shannon hatte ihr erzählt, dass sie den ganzen Tag über Kaffee trank, und so hatte Tyne genug für sie beide gemacht. Wie vorausschauend. Und wie . . . fürsorglich.

ENDE DER FORTSETZUNG

. . . aber nicht das Ende der Geschichte: Ab heute ist das Buch überall erhältlich.

Kay Rivers: Wenn das Leben neu beginnt ⯌ Eine Leseprobe in zwölf Teilen

1 Das waren die grünsten Bäume, die sie je gesehen hatte, dachte Tyne Monroe, als sie ohne Eile...
Die Frau hatte dabei keine große Rolle gespielt. Sie war mehr eine . . . Funktion. Ken hatte seine...
»N-Nein.« Eigentlich neigte Tyne nicht zum Stammeln, aber auf einmal tat sie es, während Shannon...
»Wohin?«, fragte sie verdutzt. »Zu meinem Vater«, erklärte Shannon. »Es ist gleich hier drüben.«...
4 Shannon hatte nicht die geringste Ahnung, was in sie gefahren war. Auf einmal hatte sie alles...
Im Moment konnte Shannon nicht entscheiden, ob sie das überhaupt interessierte. Sie fand Amerika...
»Überhaupt nicht?« Das schien Shannon schier unglaublich zu finden. »Als Soldatin?« Tynes...
Bei Tyne war es etwas anderes. Shannon hatte sie in Uniform kennengelernt. Und ihre stramme...
»Das hoffe ich doch sehr.« Shannons Lippen kräuselten sich, als hätte Tyne gerade noch die Kurve...
8 Es war merkwürdig, wieder mit jemandem am Tisch zu sitzen und zusammen zu essen. Ihre Mutter...
Warum war sie auf einmal wieder so gutgelaunt? Hatte Tyne diese Wirkung auf sie? Als sie an der...
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