Gedanken
Ruth Gogoll und andere Autorinnen schreiben über Themen, die sie bewegen.

Wir leben in einer narzisstischen Welt, das kann man wohl mit Fug und Recht so sagen. Narziss, nach dem der Narzissmus benannt ist, war laut griechischer Mythologie ein Jüngling, der in sein eigenes Spiegelbild verliebt war. Heute nennt man das Selfie. 😊

Narzissten sind eine ziemlich üble Sorte von Mensch. Zumindest wenn der Narzissmus bei ihnen so stark ausgeprägt ist, dass sie neben sich selbst nichts anderes mehr sehen (können). Denn wenn wir ganz ehrlich sind, haben die meisten von uns narzisstische Anteile. Wenn man sich selbst nicht lieben kann, fällt das Leben auch oft schwer.

Also ist es durchaus gut, narzisstische Anteile zu haben. Dadurch verfolgen wir unsere eigenen Ziele, dadurch versuchen wir, etwas aus unserem Leben zu machen, dadurch sind wir keine schlechten Menschen. Im Gegenteil: Das ist positiv.

Negativ wird es erst dadurch, dass wir die Liebe anderer zurückweisen, dass wir sie sogar in den Boden stampfen, wenn sie sich in uns verlieben, sie dafür leiden lassen und immer uns an die erste Stelle setzen. Dass wir die Liebe anderer nicht schätzen können, sogar eifersüchtig darauf sind, wenn sie einmal sich selbst wichtiger nehmen als uns – oder auch nur ebenso wichtig. Dann nennt sich das Ganze »Narzisstische Persönlichkeitsstörung« und ist ein Fall für die psychotherapeutische Praxis.

Die meisten Narzissten sehen das jedoch absolut nicht so. Nicht sie begeben sich üblicherweise in Therapie, sondern meistens tun das ihre Opfer, die Menschen, die sie durch ihren Narzissmus fast zerstört haben. Für einen Narzissten oder eine Narzisstin ist das auch ganz logisch. Denn an ihm oder ihr ist ja nichts falsch. Wenn man mit ihm oder ihr nicht zurechtkommt, dann ist etwas falsch an einem selbst. Für einen Narzissten sind immer die anderen schuld, diejenigen, die ihn kritisieren oder ihn nicht so annehmen, wie er (oder sie) ist. Denn ein Narzisst hält sich selbst für perfekt, für ein Geschenk an die Menschheit.

Solche Menschen gab es natürlich schon immer, und sie hatten schon immer einen eher destruktiven Einfluss auf ihre Umwelt oder auch auf die Menschheitsgeschichte, wenn sie es denn geschafft haben, an die Spitze der Macht zu gelangen. Wonach sie immer streben. Denn Macht ist so eine Art Lebenselixier für sie. Ob sie sie nun gegenüber ihrer nächsten Umgebung oder über ein ganzes Land oder die halbe Welt ausüben. Sie sind der Meinung, das ist ganz richtig so, sie haben das Recht dazu. Denn sie sind besser als alle anderen.

Darüber könnte man diskutieren. Mit einem Narzissten ist das jedoch unmöglich. Er diskutiert nicht, er gibt Anweisungen. Und erwartet, dass man sie befolgt. Wenn nicht . . . kann das sehr schlimme Folgen haben.

Würde tatsächlich niemand die Anweisungen von Narzissten befolgen, wären sie sehr bald am Ende. Denn die Quelle ihres Narzissmus ist nicht Selbstsicherheit und real ausgeprägte Selbstliebe – wie man das vermuten könnte –, sondern Angst. Eine ungeheure Unsicherheit, ein Gefühl der Minderwertigkeit, das sie innerlich fast auffrisst. Zwar sind sie sich dessen meistens nicht bewusst, aber tief innerlich fühlen sie, dass sie ihr wahres Selbst verstecken müssen, weil sie den anderen dann unterlegen wären. Deshalb erschaffen sie ein »falsches Selbst« für sich und ihre Umwelt. Und darauf bestehen sie dann, versuchen jeden dazu zu zwingen, dieses falsche Selbst als ihr richtiges Selbst zu akzeptieren.

Da lachen jetzt bestimmt einige (die noch nie oder nicht sehr intensiv mit Narzissten zu tun hatten) und sagen: »Dann tun wir das doch einfach nicht. Problem erledigt.«

Wenn man so denkt und auch so handeln kann, ist das tatsächlich so. Aber was, wenn der eigene Chef ein Narzisst ist? Was, wenn die eigene Mutter eine Narzisstin ist? Was, wenn der Mensch, den man liebt, narzisstisch ist? Bis zu einem Grade, dass er einen dazu bringt, sich selbst fast darüber zu vergessen?

Kann nicht passieren? Doch, leider kann es das. Denn das Gegenteil eines Narzissten ist ein Empath. Oder in den meisten Fällen wohl eher eine Empathin. Ein empathischer Mensch kann sich in einen anderen so sehr hineinversetzen, dass er sich selbst ganz darüber aufgibt. Und das ist gar nicht gut.

Empathie ist per definitionem das Gegenteil von Narzissmus, denn Empathie ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, mit ihnen mitzufühlen, in Extremfällen fast zu diesem Menschen zu werden. Seine Probleme werden meine Probleme, seine Gefühle werden meine Gefühle, und selbst wenn dieser Mensch mich immer wieder nur ausnutzt oder be-nutzt, all seine Launen an mir auslässt und mich wie den letzten Dreck behandelt: Ich bin immer für ihn da. Oder noch viel schlimmer: Ich liebe ihn sogar und kann nicht davon lassen.

Auch wenn ich jetzt hier immer von Menschen gesprochen und mich deshalb grammatikalisch korrekt mit „er“ darauf bezogen habe, Narzissten können auch Frauen sein. Und sind es auch.

Narzisstinnen sind nicht besser als ihre männlichen Pendants, wenn auch vielleicht ein wenig anders und manchmal nicht so leicht zu erkennen. Frauen wird ja grundsätzlich ein größeres Recht zugestanden, sich um ihr Äußeres zu kümmern oder sich mit ihren körperlichen Vorzügen zu beschäftigen, sie auch hervorzuheben. Bei Männern fällt das eher als nicht so üblich auf.

Eine Frau, die sich gut und eventuell mit einem eigenen wiedererkennbaren Stil kleidet, wird nicht als so etwas Besonderes empfunden wie ein Mann, der sehr viel Wert auf Äußerlichkeiten legt, weder in schlabbrigen Hemden und Hosen noch in dem üblichen unauffälligen dunklen Businessanzug herumläuft. Nach so einem Mann würden sich die meisten wahrscheinlich überrascht umdrehen. Wenn sie ihn nicht schon kennen und das gewöhnt sind.

Dazu kommt, dass Narzissten – egal welchen Geschlechts – ausgesprochen liebenswürdig sein können, wenn man sie neu kennenlernt. Das gehört zu ihrem Vorgehensmuster. Am Anfang erscheinen sie deshalb so, als würde sie nichts mehr interessieren als der Mann oder die Frau, die ihnen gerade gegenübersitzt. Sie erkundigen sich nach Vorlieben und Hobbys, nach dem, was man mag oder nicht mag, hören immer aufmerksam zu, geben sich verständnisvoll und mitfühlend und wissen sehr schnell ganz genau, wo die Schalter sind, die sie bei ihrem Gegenüber umlegen müssen, um es für sich zu gewinnen.

Was sie in Wirklichkeit tun, ist allerdings, dass sie Daten sammeln. Um einen hinterher besser in der Hand zu haben, besser verletzen und unterdrücken zu können, ihre Manipulationstechniken noch besser zu ihrem eigenen Vorteil anwenden zu können.

Empathische Menschen erkennen das meist nicht, denn sie sind ja wirklich so. Sie interessieren sich tatsächlich für ihre Mitmenschen und wollen möglichst alles über sie erfahren. Allerdings eher, um ihnen helfen zu können, nicht um sie auszunutzen.

Wenn also zwei solche Menschen aufeinandertreffen, ist die Katastrophe vorprogrammiert. Denn alles, was die eine tut, versteht die andere (zu ihrem eigenen Nachteil) falsch. Und freut sich auch noch darüber. Denn da empathische Menschen oft als „Mülleimer“ für andere dienen, nehmen sie dann natürlich sehr erfreut wahr, dass sich endlich einmal jemand auch für sie interessiert, für ihre Belange, für ihre Ansichten, für ihre Probleme, nicht immer nur umgekehrt.

Wenn sich die Empathin dann jedoch der Narzisstin öffnet, ihr vielleicht sogar von den peinlichsten Momenten ihres Lebens erzählt, weil sie ihr vertraut (und weil Narzisstinnen gut darin sind, so etwas aus Leuten herauszuholen), dann wird sie sich bald im Gegenteil der für sie am Anfang so erfreulich erscheinenden Situation wiederfinden. Denn alles, was sie ihrer neuen „Freundin“ anvertraut hat, wird ab einem gewissen (nicht sehr fernen) Zeitpunkt gegen sie verwendet. Jede einzelne Kleinigkeit wird sich zum Nachteil der Empathin auswirken und sie zum Spielball der Manipulationen der Narzisstin machen.

Leider haben empathische Menschen immer das Gefühl, sie könnten den anderen oder die andere ändern. Und dadurch manövrieren sie sich immer noch tiefer in das Spinnennetz der Narzissten hinein, die das nur allzu gern ausnutzen. Obwohl Narzissten sich nie ändern und auch gar nicht ändern wollen. Unter gar keinen Umständen. Weil das ihr Selbstbild bedroht, das Bild des „falschen Selbst“, das sie sich aufgebaut haben und das das einzige ist, worauf sie sich verlassen können und verlassen wollen.

Empathinnen sind immer bereit, sich einzufühlen, sich anzupassen, sich zu verändern, um anderen helfen zu können. Deshalb können sie sich kaum vorstellen, dass jemand anders gestrickt sein könnte, und deshalb kann eine Empathin sehr schnell in die Falle tappen, die Beziehung zu „ihrer“ Narzisstin – selbst wenn sie schon weiß, dass sie eine ist – als eine Art „Projekt“ zu betrachten.

»Ich liebe sie doch. Und sie liebt mich auch. Zusammen können wir das schaffen.« Das wäre eine typische Aussage einer Empathin.

Darin enthalten sind schon mehrere Denkfehler. Zuerst einmal: Narzissten lieben nur sich selbst. Also davon auszugehen, dass eine Narzisstin mich genauso lieben könnte, wie ich sie liebe, das ist ein Trugschluss. Das kann sie nicht und das wird sie nicht. Nie.

Der zweite Fehler ist, davon auszugehen, dass es ein „Wir“ gibt und ein „Zusammen“, ganz zu schweigen von einem „Zusammen schaffen wir das schon“. Diese Sichtweise existiert für Narzisstinnen nicht. Für sie gibt es nur ein „Ich“ und ein „Du wirst alles für mich tun, was ich von dir verlange“. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl hat die Narzisstin nicht und wird sie auch nie haben. Ihr ganzer Kosmos besteht nur aus ihr selbst.

Das sind Dinge, die die Empathin nie verstehen können wird. Denn ihr Kosmos umfasst praktisch die ganze Welt. Das Wörtchen „Ich“ existiert für sie so gut wie überhaupt nicht. Und wenn, dann höchstens im Zusammenhang mit jemand anderem. »Ich muss ihr helfen. Sie braucht mich doch.«

Wenn man solch eine Denkweise an sich beobachtet, sollte man aufmerksam werden. Denn dann ist man sehr in Gefahr, ausgenutzt zu werden.

Wenn man jetzt sagt: »Was ist das denn für ein Blödsinn? Warum sollte ich mich dafür interessieren, was du hier schreibst oder was du denkst?«, dann sollte man auch aufmerksam werden, denn das ist eine sehr narzisstische Einstellung.

Nur wird das die Narzisstin überhaupt nicht interessieren. 🙂 Denn das ist ihre Einstellung – und damit die richtige.

Also richtet sich das hier eigentlich nur an Empathinnen. An die Frauen, die sich immer für andere aufopfern und nie an sich selbst denken. Die vielleicht mit einer Narzisstin in einer Partnerschaft leben und immer noch denken, sie wären schuld, wenn die Beziehung nicht gut läuft und sie völlig fertigmacht. Weil die Narzisstin ihnen das natürlich auch einredet und immer wieder sagt, sollte die Empathin sich beklagen. Denn davon, dass alles, was auch immer schiefläuft, nicht ihre eigene Schuld sein kann, sondern nur die der anderen, davon ist die Narzisstin voll und ganz überzeugt.

Nur darf man diese Überzeugung nicht annehmen. Wenn man merkt, dass sich jemand so verhält, dann sollte man so schnell wie möglich die Beine in die Hand nehmen und weglaufen.

Sie mag so schön sein, wie sie will, so liebenswürdig, wie sie am Anfang sein kann, so attraktiv, so scheinbar nett, so scheinbar diejenige, die sich für meine Probleme interessiert: Das ist alles nur Show. So ist sie nicht.

Sehr bald wird sie ihr wahres Gesicht zeigen. Aber dann ist es möglicherweise schon zu spät.

Deshalb: Früherkennung ist die Parole. Wie bei jeder Krankheit. Und dann die richtige Therapie.

Wegrennen, wegrennen, wegrennen. 🏃‍♀️ So schnell und so weit wie möglich.

Auch wenn das in unserer narzisstischen Welt nicht immer so einfach ist. 🤳