Gedanken
Ruth Gogoll und andere Autorinnen schreiben über Themen, die sie bewegen.

Ich komme doch nicht los vom schriftstellerischen Handwerk. 😎 Kurz vor Schließung des Forums hatte ich dort noch diesen Artikel geschrieben und auch ein paar Reaktionen von den Autorinnen im Forum dazu erhalten, aber danach konnte das ja niemand mehr lesen, und deshalb setze ich es jetzt auf die Webseite. Vielleicht ist es ja für die eine oder andere Autorin nützlich. Und Narzissmus kommt ja nicht nur in Büchern vor, sondern vor allem auch sehr oft im täglichen Leben. Also können auch Nicht-Autorinnen vielleicht etwas damit anfangen, was ich hier geschrieben habe.

 

»Beitrag von Ruth » So 4. Okt 2020, 17:29

Psychologie ist eine der wichtigsten Grundlagen für eine Schriftstellerin, um gute Geschichten schreiben zu können. Wenn eine Geschichte keinen psychologischen „Twist“ hat, wird sie schnell langweilig. Denn wenn eine Geschichte nur aus einem Ablauf von Aktionen oder Handlungen besteht oder aus Beschreibung oder Backstory, die über lange Absätze im Dialog oder im sonstigen Text abgespult werden, ohne psychologischen Hintergrund, ohne dass man merkt, dass die Autorin sich Gedanken über die psychische oder emotionale Verfassung ihrer Figuren gemacht hat, dann könnte man genauso gut das Telefonbuch lesen. 🙂

Noch wichtiger als bei guten oder gutmütigen Figuren ist die Psychologie bei den sogenannten bösen Figuren. Den Figuren, die uns meistens allen schwerfallen, weil wir eben nicht böse sind.

In diesem Zusammenhang bin ich kürzlich auf das Thema Narzissmus gestoßen. Schon vor einiger Zeit hatte ich dazu mal einen Artikel auf der Webseite geschrieben, aber noch ohne Bezug zum Schreiben. Es ging mehr darum, dass es Leute gibt, die sich sehr narzisstisch verhalten und dadurch andere Menschen verletzen.

Weil Narzissten keinerlei Empathie haben. Das ist eine ihrer hervorstechendsten Eigenschaften, wenn nicht die hervorstechendste überhaupt, auf der ihre ganzen anderen bösartigen Eigenschaften und Verhaltensweisen beruhen. Weil sie sich nicht in einen anderen Menschen hineinversetzen können. Also sehen sie auch nicht, wenn jemand anderer verletzt ist oder unter ihren entwertenden oder demütigenden Bemerkungen oder Taten leidet. Was dazu führt, dass das Leiden anderer ihnen völlig egal ist.

Eine zweite Eigenschaft, die ebenfalls damit zusammenhängt, ist der fehlende Sinn für Humor bei Narzissten. Sie können nicht über sich selbst lachen. Auch wenn sie andere gern lächerlich machen und deren Pein genießen. Weil sie sich dadurch so fühlen, als hätten sie Macht über sie. Und Macht ist das, wonach sie am meisten streben. Macht und Anerkennung.

Ein Psychologe hat das einmal so beschrieben, als ob Narzissten einen Eimer hätten, der fast nur aus Löchern besteht. Dieser Eimer muss immer wieder mit Anerkennung (im Englischen nennt man das narcissistic supply) gefüllt werden, sonst ist er leer und Narzissten fühlen sich dann bedeutungslos. Was sie absolut nicht ertragen können. Sie halten sich für Übermenschen, die besten Menschen, die es überhaupt gibt, die alles wissen und können, und wollen das von anderen auch immer wieder bestätigt haben. Denn in sich selbst finden sie diese Bestätigung nicht.

Was ein Widerspruch in sich ist, denn wenn man sich für so toll hält, warum müssen einem das dann andere immer wieder bestätigen? Aber es scheint so zu sein, sagen die Psychologen, die sich intensiv mit Narzissmus beschäftigt haben und beschäftigen. Narzissten sind in ihrer emotionalen Entwicklung auf einem vorpubertären Niveau stehengeblieben, das heißt, sie sind eigentlich Kinder in erwachsenen Körpern. Und wir wissen alle, wie grausam Kinder sein können. Wegen fehlender Empathie und auch aus der Verunsicherung heraus, dass sie noch nicht aus eigener Erfahrung wissen, was richtig und was falsch ist und wie andere auf irgendein Verhalten von ihnen reagieren werden. Also probieren sie es aus.

Diese Informationen, die ich vorher nicht hatte, haben dazu geführt, dass ich die Szene mit Claudia in Miryams Haus (in dem Buch Miryams Geheimnis), bei der sie wegläuft, jetzt so geschrieben habe, wie ich sie geschrieben habe. Vor ein paar Wochen, als ich diese Informationen noch nicht hatte, hätte ich das nicht getan. Ich hätte es nicht gewusst.

Psychologie ist also das wichtigste Werkzeug, wenn wir böse Figuren erschaffen wollen. Wenn wir deren Verhalten einbauen wollen oder durch Show don’t tell zeigen wollen.

Nur wenn wir verstehen, dass böse Menschen grundsätzlich narzisstisch gestört sein müssen, um böse sein zu können, dass sie keine Empathie besitzen dürfen, keinen Humor, keine Neugier auf andere Menschen, kein Interesse an etwas anderem oder jemand anderem als sich selbst, dass sie dem alles andere unterordnen, weil sie sich selbst für absolut überlegen und außergewöhnlich halten, können wir diese Figuren glaubwürdig gestalten.

Das muss dann natürlich auch durchgehalten werden, denn wenn eine Figur keine Empathie hat, hat sie keine Empathie. Sie kann dann nicht in der nächsten Szene doch welche haben. Oder Humor. Oder Neugier. Oder ein über sich selbst hinausgehendes Interesse. Das Ganze – ihre tiefe innere Verunsicherung und das fehlende Einfühlungsvermögen in andere – führt zudem dazu, dass sie alles kontrollieren wollen, in erster Linie aber andere Menschen. Immer und überall. Sie müssen unbedingt die Kontrolle haben, sonst explodieren sie.

Aber das ist wieder ein anderes Thema, das wir auch schon oft hatten, das hat nicht allein mit Psychologie oder Narzissmus zu tun. Ein Mensch ist, wie er ist, hat verschiedene Eigenschaften, gute wie böse, eine Figur in einem Buch hat diese Freiheit weniger. Sie muss wesentlich konsistenter sein als ein realer Mensch.

Und dafür sind Narzissten die beste Matrize, also die beste Vorlage. Narzissten ändern sich nie. Sie sind einfach böse (oder sagen wir eher: gespielt (obwohl sie das nicht wissen) selbstverliebt, arrogant und ignorant bis zur Unerträglichkeit, woraus sich dann böse Dinge für andere ergeben), und das bleiben sie auch. Deshalb können wir das als gute Grundlage für Figuren nehmen, die anderen nichts Gutes wollen und wünschen. Nur alles Gute für sich selbst. Ohne Rücksicht auf Verluste. anderer.

Wehe, sie selbst erleiden einen Verlust. Dann sieht die Sache ganz anders aus. Aber sie ändern sich trotzdem nicht. Sie werden nur wütend. Auf den anderen, den sie dann zum Sündenbock machen, auch wenn sie selbst an ihrer Misere schuld sind.

So ist eine Narzisstin die beste Antagonistin, die man in einem Buch haben kann. Oder natürlich auch ein Narzisst. Denn es gibt keine Persönlichkeitsstörung, die in dieser Beziehung (als negative Figur in einem Buch, mit der man kein Mitleid haben kann und muss) zuverlässiger ist. Narzissten bestehen nur aus Mustern, die sie abspulen, und diese Muster können wir verwenden.

Sie sind sehr eindeutig und dadurch ausgesprochen vorhersehbar in ihrem Verhalten (was sie aber nicht wissen und nicht wahrhaben wollen, weil sie sich für so einzigartig halten) und helfen uns dadurch, eine Geschichte (und vor allem den Konflikt darin) besser zu gestalten, eine negative Figur unsympathisch und konsistent darstellen zu können.

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» Beitrag von Anne Wall

Ja, ich muss zugeben, Claudias Reaktion hat mich sehr überrascht. 😉 Ich habe mich noch nie mit Narzissmus beschäftigt, und ich hätte eher ein längeres Gespräch mit einem Austausch von Gemeinheiten oder scharfen Zurechtweisungen erwartet (wie Du es ja auch schon geschrieben hast). Keine Ahnung, wie das Ende der Szene dann ausgesehen hätte. Aber mit diesem Ende hast Du mich völlig auf dem falschen Fuß erwischt. 😄 Es ist sehr verblüffend und innovativ. Mir wäre so etwas jedenfalls nie eingefallen. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, es so zu machen.

Mit Deinen Erklärungen hier verstehe ich das jetzt besser. Aber ich werde mich da noch etwas schlauer machen mit Google und Co. Das interessiert mich jetzt nämlich sehr. Denn in meiner eigenen Geschichte könnte ich das auch verwenden. Und wenn ich das jetzt anders durchschaue als bisher (oder überhaupt durchschaue), hilft mir das bestimmt, die entsprechenden Szenen zu schreiben oder umzuschreiben, sie erheblich zu verbessern. Deshalb: Danke! 🤗

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» Beitrag von Steffi (Kingsley Stevens)

Der Artikel hat mich jetzt echt nachdenklich gemacht. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum ich immer noch nicht richtig weitergekommen bin mit meiner Romancing Xena-Geschichte. Mir fehlt eine richtig böse Figur beziehungsweise die Vorstellung davon. Narzissmus könnte der Schlüssel sein.

Die Gefahr, die Sydney bedroht und weshalb sie Einzelgängerin bleiben will, absolut keine Beziehung eingehen will, sich nicht länger als unbedingt nötig mit einer Person abgeben will, ist bis jetzt immer noch zu nebulös und nicht an eine Person gebunden. Es ist mehr eine Organisation, um die es geht. Eine Organisation hat aber kein Gesicht und ist auch nicht aus sich selbst heraus bösartig. Es sind immer die Menschen, die bösartig sind.

Das heißt, die Bedrohung muss personifiziert werden. Und die Person muss bösartig narzisstisch sein. Psychopathisch vielleicht sogar.

Bisher konnte ich mich mit solchen Psychopathen, Serienkillern zum Beispiel, nicht so richtig anfreunden. Die sind mir zu steril. Eben weil sie nur an der Oberfläche agieren, sich nicht ändern können, keine Gefühle haben, kein Unrechtsbewusstsein.

Narzissmus ist aber so eine Art abgeschwächte Psychopathie. Das könnte also vielleicht noch eine nicht ganz so sterile Figur ergeben. Darüber werde ich jetzt mal nachdenken. 🧐

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» Beitrag von Ruth

Eins muss man immer noch dazu bedenken. Narzissten sind genau wie Psychopathen extrem manipulativ. Wenn sie sich einen Vorteil erhoffen oder dich zu etwas überreden wollen, lügen sie dir das Blaue vom Himmel herunter, ohne mit der Wimper zu zucken. Erzählen dir genau das, was du hören willst. Das könnte dazu führen, dass eine Figur, die eher gut ist und sich nicht vorstellen kann, dass ein Mensch immer und ununterbrochen nur lügt, darauf hereinfällt. Ein Narzisst passt sich die Wahrheit an, wie es ihm gerade in den Sinn kommt und nützlich ist. Das kann sich ein normaler Mensch gar nicht vorstellen und rechnet deshalb auch nicht damit.

Auf so etwas könnten sowohl Deine Figuren, Anne, hereinfallen, als auch bei Deiner Sydney-Geschichte, Steffi, vor allem die Gabrielle-Figur, die ja grundsätzlich gut ist bis zur Naivität. Aus einer Manipulation, die diese Naivität ausnutzt, könnte sich also eine sehr bedrohliche Situation für Sydney ergeben.

Das Gute daran ist, dass man dann sehr viele „Twists“ haben kann, einfach weil Menschen, die „zu normal“ denken, dann sehr überrascht von dem sind, was ein Narzisst so alles auf der Pfanne hat. 😉 Das heißt, das, was wir üblicherweise in den Mittelpunkt einer Geschichte stellen, nämlich der logische Ablauf, kann durch sehr überraschende Wendungen unterbrochen und in andere Richtungen getrieben werden, die man vorher nicht so voraussehen kann.

So kann die Vorhersehbarkeit des Narzissten, die aber für die „normale“ Leserin eine Überraschung ist, das Buch sehr viel spannender machen, und die Logik ist dann sozusagen nur der rote Faden, zu dem man wieder zurückkehren muss, der aber manchmal nicht zu sehen ist. Das hält die Neugier wach, was der nächste Schritt in der Geschichte sein wird. Und etwas Besseres kann einem als Autorin gar nicht passieren. 😃