Gedanken
Ruth Gogoll und andere Autorinnen schreiben über Themen, die sie bewegen.

Selbstverständlich kannst Du einen historischen Roman zum LLP einreichen, Anne. 🙂 Ich sehe keinen Grund, warum nicht.

In vielem, was Du gesagt hast, stimme ich Dir zu. Leider interessieren sich viel zu wenige Leute für Geschichte, obwohl ich finde, dass das eines der wichtigsten Fächer ist, die es in der Schule gibt. Am Anfang meines Studiums habe ich sogar einmal Geschichte studiert, weil ich das immer faszinierend fand.

Viele junge Leute leben jedoch sehr in der Gegenwart. Sie denken weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft. Und vergessen dabei oft, dass unsere Zukunft sowohl von unserer Gegenwart als auch von unserer Vergangenheit bestimmt wird. Wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, kann die Zukunft schrecklich werden.

Ich hätte gern mehr historische Romane gemacht in den letzten 25 Jahren, aber es gibt anscheinend nicht viele lesbische Autorinnen, die so etwas schreiben. Ganz zu schweigen davon, ob sie es überhaupt schreiben können. Denn oft fehlt dazu das Wissen über die Zeit und auch das Gefühl für die Zeit. Was sich dann immer wieder darin zeigt, dass die Frauen in den Romanen, die es gibt, das sind ja meistens Heteroromane, sich nicht so verhalten, wie Frauen sich in der Zeit historisch verhalten hätten. Hätten verhalten müssen.

Viele junge Frauen können sich die Einschränkungen gar nicht mehr vorstellen, denen Frauen in früheren Zeiten unterworfen waren. Allein schon aufgrund ihrer biologischen Funktion. Frauen hatten die Funktion, Kinder zu kriegen. Punkt. Und schwer zu arbeiten, um diese Kinder dann zu versorgen, und den Mann, der sie produziert hatte. Für mehr waren Frauen nicht gedacht, und mehr wurde ihnen auch nicht zugetraut oder gestattet.

Aufgrund ihrer größeren körperlichen Kraft konnten Männer sich in dieser Hinsicht Frauen gegenüber meistens leicht durchsetzen. Wenn eine Frau nicht das tat, was man von ihr verlangte und erwartete, wurde sie eben so lange geprügelt, bis sie es tat (und wenn sie dabei starb, war das ja auch nicht schlimm. Es gab ja genug Frauen, die ihre Funktion übernehmen konnten), oder sie wurde vergewaltigt, und dann kamen die Kinder ganz von selbst. Um die sie sich dann kümmern musste, und damit hatte sie nicht mehr viel Zeit, sich um ihre eigenen Belange zu kümmern, um Träume, Sehnsüchte oder Bedürfnisse, die ihr von außen nicht zugestanden wurden.

Dass ein Mensch ein Individuum ist, mit Rechten und Sehnsüchten, mit Talenten, die völlig unabhängig von Geschlecht und Herkunft sind, das war lange Zeit vollkommen unbekannt. Und dann wurde es allerhöchstens Männern zugestanden. Eines der ersten Dinge, die ich im Linguistikstudium gelernt habe, war, dass das Wort Mensch eine Sch-Bildung des Wortes Mann ist. Frauen sind keine Menschen. Und so wurden sie oft auch behandelt. Werden sie heute immer noch in vielen Teilen der Welt.

Lesben sind natürlich noch wieder eine ganz andere Geschichte. Was für einen Wert haben Frauen, die durch ihre Lebensweise dafür sorgen, dass sie gar keine Kinder bekommen? Das gilt natürlich auch für Heterofrauen, die keine Kinder wollen, aber bei Lesben liegt es in der Natur der Sache, denn die führt nicht zu einem Kind, wenn zwei Frauen Sex haben. Da muss man technische Hilfsmittel anwenden, die es früher gar nicht gab. Oder eine Lesbe muss dann eben doch mit einem Mann schlafen, um schwanger zu werden.

In historischen Romanen, die beispielsweise im Mittelalter spielen würden, wäre das alles völlig undenkbar. Eine Frau, die allein lebt und für sich selbst sorgt, eine Frau, die mit einer Frau zusammenlebt und sich Männern verweigert, eine Frau, die keine Kinder bekommt, die sie dann im Alter versorgen können. Denn so etwas wie Rente oder Pension gab es bis vor relativ kurzer Zeit nicht. Die eigenen Kinder waren die Altersversorgung. Man war also ziemlich schlecht dran, wenn man keine Kinder hatte.

Das und noch viel mehr hat das Leben aller Menschen beeinflusst, das Leben lesbischer Frauen jedoch noch wesentlich einschneidender, denn es hieß, dass die eigene Lebensweise, die eigene Veranlagung oder sexuelle Orientierung dafür sorgt, dass man sich selbst ruiniert. Unweigerlich.

Solche Probleme sind tatsächlich existenziell, da hast Du recht. Und das ist heute vielen Leuten gar nicht mehr bewusst. Wenn man sich vorstellt, wie viel Zeit junge Leute heutzutage vor dem Computer, vor dem Fernseher, in den Social Media verbringen, auf Instagram völlig sinnfreie Dinge posten und sich mit völlig überflüssigen oder absurden Themen beschäftigen, dann fragt man sich, was für ein Leben das eigentlich sein soll. Was wäre, wenn es von jetzt auf gleich kein Internet und keine Handys mehr gäbe?

Für die Älteren von uns ist das wohl keine Frage, denn wir sind so aufgewachsen. Das Internet und Handys erleichtern das Leben in gewisser Beziehung, aber lebensnotwendig sind sie nicht. Kein Mensch stirbt, wenn er kein Internet und kein Handy mehr hat. Auf der anderen Seite ist es gerade für uns Lesben eine wunderbare Sache, über das Internet andere Lesben kennenlernen zu können, zu wissen, dass man nicht allein ist oder „krank“.

Auch lesbische Bücher wären wahrscheinlich fast undenkbar ohne das Internet. Denn es zu wagen, in eine eventuell auch kleine Buchhandlung zu gehen und dort nach einem lesbischen Buch zu fragen, erfordert schon einiges an Courage. Ein E-Book aus dem Internet herunterzuladen ist mit einem Klick erledigt, und wenn man nicht will, dass das jemand weiß, behält man es einfach für sich.

Dass es all diese Möglichkeiten jedoch erst seit gestern gibt – historisch betrachtet –, sollte uns immer bewusst sein. Wie glücklich wir uns schätzen können, diese Möglichkeiten zu haben, und dass frühere Generationen die nicht hatten, sich dem Zwang der heteronormativen Welt, der Lebensumstände, in die sie hineingeboren waren und aus denen sie sich nicht befreien konnten, beugen mussten, ganz egal, wie ihre persönlichen Vorstellungen aussahen.

Deshalb wäre ich sehr dafür, diese Zeiten in lesbischen historischen Romanen zu erforschen, um sich ein Bild davon zu machen, wie gut es uns heute geht. Wir müssen keine Korsetts mehr tragen oder unser Leben gegen unsere Natur leben. Wir tragen Hosen, nicht lange, bis zum Boden gehende Kleider und Röcke, die jeden Schritt behindern, wir können entscheiden, ob wir Kinder haben wollen oder nicht, können einen Beruf ausüben, der unseren Fähigkeiten entspricht und uns erfüllt, und unseren eigenen Lebensunterhalt verdienen.

Was für eine schöne neue Welt ist das, in der wir leben. Aber so etwas kann man nur schätzen, wenn man weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Und dafür ist es unabdingbar, sich auch mit der Vergangenheit zu beschäftigen und daraus zu lernen, die eigene Perspektive dahingehend zu erweitern und nicht immer nur bis zur eigenen Nasenspitze zu sehen.

Ja, ich wäre absolut für mehr historische lesbische Romane. 😎