Über das Schreiben
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Grundsätzlich ist das schon okay, was Du da gemacht hast, Sina. Ich habe mir das jetzt einmal angesehen. Du hast das schön nach Gwen Hayes aufgeschlüsselt. Aber du hast recht, es geht etwas zu schnell damit, dass H2 sagt, wer sie ist. In dem Moment ist richtig die Luft raus. Und zwar schon sehr früh, bevor die Geschichte eigentlich angefangen hat.

Diese Verschleierungstaktik, von der Du gesprochen hast, könnte da sehr viel mehr Spannung erzeugen. Und dann gibt es irgendwann einen großen Knall, als herauskommt, wer H2 wirklich ist.

Spannung ist vielleicht ein Begriff, der durchaus etwas verwirrend sein kann. Denn was ist eigentlich Spannung? Spannung entsteht auf jeden Fall durch Konflikt, aber nicht nur durch Konflikt. Spannung entsteht auch zwischen Personen, die sich gegenseitig anziehend finden, also das Gegenteil von Konflikt.  🙂 Eine Szene, in der sie nur miteinander flirten, kann sehr, sehr spannend sein. Insbesondere, wenn es dann nicht zum Sex kommt.

Dennoch kann man sicher grundsätzlich sagen, Spannung entsteht vor allen Dingen dann, wenn etwas passiert, innerhalb oder außerhalb der Person, die die Perspektive trägt.

Das Gegenteil von Spannung – also Langeweile – entsteht, wenn nichts passiert, wenn die Geschichte nur so vor sich hinplätschert, wenn alltägliche Dinge beschrieben werden, die jeder kennt und die niemanden aufregen. Das ist dann ungefähr so spannend wie eine Einkaufsliste zu lesen oder das Telefonbuch.  😎

Darüber wird oft vergessen zu reden. Wenn man von Spannungsbogen oder Spannungsaufbau spricht, definiert man nur einen Teil des Kuchens. Und man fängt beim zweiten Schritt an. Der erste Schritt ist, dass man erst einmal wissen muss, was Spannung ist, was Spannung bedingt.

Warum plätschern viele Geschichten einfach nur so vor sich hin? Warum schreibt eine Autorin so etwas überhaupt? Merkt sie denn beim Schreiben gar nicht, wie langweilig das ist?

Nein, tut sie nicht. Sonst würde sie es wahrscheinlich anders machen. 😉

Unser Leben ist grundsätzlich nicht auf Spannung angelegt. Das ist nicht unser Ziel. Unser Ziel ist eher Entspannung. Und mittlerweile ist das Leben in West- und Mitteleuropa nicht mehr grundsätzlich gefährlich. Wir leben so vor uns hin, gehen zur Arbeit, kommen nach Hause, sitzen vor dem Fernseher oder gehen unseren Hobbys nach, kümmern uns um unsere Familie, unsere Haustiere, unseren Garten . . . was auch immer.

Sprich: Das Leben ist grundsätzlich langweilig. Es springt nicht jede Minute unseres Weges zur Arbeit ein Löwe oder Tiger oder Bär oder Wolf auf uns zu und will uns zu seinem Frühstück machen.  🙂 Das ist auch gut so, aber das bedingt, dass wir kein wirkliches Gefühl für Spannung mehr entwickeln können.

Eventuell gibt es Konflikte mit Kollegen auf der Arbeit, mit der Familie zu Hause, bei jüngeren Menschen mit Schulkameraden oder Lehrern in der Schule, den etwas älteren Studienkollegen oder Dozenten an der Uni oder dem Meister im Betrieb, wenn man einen Beruf lernt, aber das alles ist nicht die Art Spannung, die man direkt sieht, die direkt mit aufsehenerregenden Aktionen verbunden ist.

Früher – sagen wir mal noch im 19. Jahrhundert oder auch in Teilen des 20. – war die Welt eine wesentlich grausamere. Keine Entspannung vor dem Fernseher, sondern ein Überlebenskampf. Jeden Tag.

Solche Dinge können wir heutzutage kaum noch erleben, weil unsere Welt eine viel bequemere ist. Es gibt noch einige Berufe, die gefährlich sind, aber für die meisten Menschen plätschert das Leben tatsächlich tagein, tagaus nur so vor sich hin, mit Höhen und Tiefen, das durchaus, aber meistens nicht in einer lebensbedrohenden, einer existenzbedrohenden Form.

Wenn man beschreibt, wie jemand zur Arbeit kommt, sich mit Kollegen unterhält, vom Wochenende erzählt, Bilder seiner Kinder oder Hunde oder Katzen rumzeigt. das ist das alltägliche Leben. Deshalb ist es langweilig.

Wenn aber jemand aus seinem Alltag gerissen wird – selbst wenn das nur gefühlsmäßig ist wie in einem Liebesroman, in dem plötzlich jemand den Raum betritt, den man noch nicht kennt, und das Herz schlägt schneller –, dann beginnt die Spannung zu steigen.

Ein Spannungsbogen entsteht, wenn man solche Dinge dann langsam steigert, wie in einem Lego-Turm immer noch einen Stein draufsetzt, bis all diese Ereignisse, die aufeinandergestapelt wurden, nur noch in einer Explosion enden können. Das ist wie die Spannung in einem Film, wenn eine Bombe tickt und man sieht die Uhr rückwärts laufen. Es wird immer enger und enger, bis die Katastrophe eintreten muss.

Wenn die Bombe keine Bombe wäre, sondern nur eine Uhr, die tickt oder rückwärts läuft, würde das keine Spannung erzeugen. Das wäre wie unser Alltag. Die Zeit schreitet voran, aber es passiert nichts. Und wir erwarten auch nicht, dass etwas passiert.

So darf es in einer Geschichte niemals sein. Es muss immer etwas passieren, innerlich oder äußerlich, und die Zeit muss wie in einen Kokon gepresst werden, aus dem dann zum Schluss der Schmetterling entschlüpft.  😊

Eine Verschleierungstaktik ist natürlich genau das: der Kokon, der von außen ganz harmlos aussieht, in dem sich aber innerlich etwas entwickelt. Und zwar in diesem Fall kein Schmetterling, sondern eine Bombe. Die Wahrheit kommt immer ans Licht, sagt man, und Lügen können meistens nicht bis zum Nimmerleinstag aufrechterhalten werden. Sie müssen platzen.

Also bis zum Midpoint of Love – nach Hayes – scheint es so, als ob alles in Butter ist, zumindest für Deine H1, die Leserin weiß dann ja schon mehr, aber dann wird alles auf den Kopf gestellt, indem herauskommt, dass das nicht die Wahrheit war, dass es ein großer Gefühlsbetrug ist.

Mittlerweile muss sich bei H2 natürlich auch etwas entwickelt haben, denn sonst könnte sie ja einfach mit ihrem bösen Spiel weitermachen, und es wäre kein Liebesroman, sondern mehr ein Thriller. So unabhängig sie jedoch ist, äußerlich, innerlich hat sich bei ihr auch eine gewisse Abhängigkeit von H1 entwickelt, weil sie sie liebt – auch wenn H2 das vielleicht noch nicht zugibt – und sie nicht verletzen will.

Wenn von Anfang an klar ist, wer wer ist, kann sich da natürlich durchaus auch etwas entwickeln, aber dann will H1 H2 nur von ihrem Traum überzeugen, und H2 müsste dann immer dagegen argumentieren. Da ist die Entwicklung zum Midpoint of Love hin dann gar nicht so einfach.

Deine zweite Idee gefällt mir besser. 👍