Über das Schreiben
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Oh, Hanna, da stellst Du mich jetzt aber vor ein Problem. 🙂 Grundsätzlich haben mir die Sachen mit Deiner bösen Franzi schon gut gefallen. Ich mochte Franzi schon in Du bist die Welt für mich als Figur. Sie hat Spannung in die Geschichte gebracht. Vor allem auch als Gegenpol zu der doch sehr gutmenschigen Veronika. So einen Gegenpol müsste es dann jedoch auch in einer Geschichte mit Franzi als Hauptfigur geben. Und diese Figur müsste dann zum Schluss verlieren. Das ist natürlich nicht so ganz das, was ich mir in einem el!es-Buch wünsche.

Auf der anderen Seite verstehe ich gut, dass Dich das reizt. In gewisser Weise würde mich das auch reizen. Als Schriftstellerin. Man muss ja auch immer mal wieder etwas Neues ausprobieren. Aber da jetzt eine Entscheidung zu fällen . . . Da müsste man fast die Leserinnen fragen, ob sie so etwas überhaupt lesen wollen.

Das überaus Reizvolle daran ist, dass böse Figuren immer interessanter sind als gute Figuren. Vor allem, wenn eine Figur nicht nur böse ist, sondern auch mal plötzliche Einfälle von Gutmütigkeit hat. Dadurch wird die Figur dann unberechenbar, und das trägt oft sehr zur Spannung bei. Weil man nie genau weiß, wie die Figur dann in einer bestimmten Situation reagiert. Es ist aber auch gar nicht so einfach, dann in der ganzen Geschichte die Balance zu halten. Ein ziemlicher Drahtseilakt, und beim Schreiben sicherlich auch ziemlich anstrengend.

Was mir aber bei dem Thema so einfällt, ist der unzuverlässige Erzähler. Wenn Du Franzi zu einer unzuverlässigen Erzählerin machen würdest, vielleicht das ganze Buch sogar aus der Ich-Perspektive schreiben würdest, dann könntest Du mit der Wahrheit spielen. Wir würden nur erfahren, was Franzi für die Wahrheit hält – oder wovon sie will, dass andere es für die Wahrheit halten –, aber nicht unbedingt, was die Wahrheit ist. Das wissen wir aber nicht, weil wir Franzi glauben. Weil sie das so glaubwürdig erzählt, dass wir gar nicht auf den Gedanken kommen, es könnte nicht die Wahrheit sein.

Normalerweise geht man als Leserin ja davon aus, dass der Erzähler oder die Erzählerin die Wahrheit sagt. Also wenn eine Figur sagt „Es ist Nacht und es ist dunkel“, glauben wir das. Wenn es aber tatsächlich helllichter Tag ist, und die Erzählerin nur behauptet, es ist Nacht, um irgendeine Wirkung zu erzielen, dann ist die Erzählerin unzuverlässig, sie sagt nicht die Wahrheit.

Das ist allerdings nicht so ganz einfach handwerklich, denn die Geschichte muss ja dann zum Schluss auch stimmen, wenn sich herausstellt, was wirklich die Wahrheit ist. Also wenn Du den Plot entwickelst, schreibst Du hin, es ist Tag. Du musst als Autorin wissen, dass Tag ist. Im Buch musst Du dann aber schreiben, es ist Nacht. Und das muss die Leserin auch überzeugen. Das heißt, die subjektive Wahrheit, die Du in der Geschichte vermittelst, weicht von der objektiven Wahrheit ab. Du musst da aber immer den Überblick behalten und darfst nicht wirklich so schreiben, dass es zur Wahrheit wird. Nicht einfach, wie gesagt.

Aber so könnte es funktionieren. Wie in der kurzen Anfangsszene, die Du damals im Forum eingestellt hattest. Als Franzi Nicky glaubhaft versichert, dass Veronika die Böse ist, nicht Franzi selbst. Dass sie Franzi die Frau weggenommen hat, nämlich Jutta. Während es ja in Wirklichkeit umgekehrt war und Franzi mit Hilfe ihrer Zwillingsähnlichkeit Jutta verführt hatte, indem sie ihr vorgespielt hatte, sie wäre Veronika. Also meinte Jutta, sie hätte mit Veronika geschlafen, bis sich dann herausstellte, dass sie mit Franzi geschlafen hat. Obwohl sie das gar nicht wollte.

Aber Veronika war trotzdem tief verletzt. Und Jutta zutiefst unglücklich. Beide waren getrennt. Veronika konnte Jutta nicht mehr vertrauen, und Jutta hat sich furchtbar geschämt. Was Franzi dann diebisch gefreut hat, denn das war es ja, was sie erreichen wollte. Eigentlich wollte sie zwar Jutta für sich gewinnen, aber wahrscheinlich hat sie selbst nicht daran geglaubt, dass das gelingen könnte. Weshalb sie sich ja für Veronika ausgegeben hat.

In so einer kurzen Szene ist das ganz gut machbar, aber das in einem ganzen Buch aufrechtzuerhalten ist doch ziemlich schwierig. Eines der besten Beispiele von unzuverlässigem Erzählen, das mich damals schwer beeindruckt hat, war die Kurzgeschichte Die gelbe Tapete von Charlotte Perkins Gilman. Darin erzählt eine Frau von ihrer Situation als Gefangene. Sie wird gegen ihren Willen in einem Zimmer festgehalten, manchmal sogar ans Bett gebunden oder angekettet, damit sie nicht fliehen kann. Es kommen immer wieder Leute, die sie nur quälen wollen, und sie überlegt immer wieder fieberhaft, wie sie diese Leute überlisten kann.

Man leidet mit ihr mit und fragt sich, womit sie all diese Qualen verdient hat, warum sie überhaupt eingesperrt ist, aber zum Schluss stellt sich dann heraus, dass das alles nur Einbildung ist. In Wirklichkeit ist sie krank, und die Leute quälen sie nicht, sondern pflegen sie, wollen ihr nur Gutes. Aber in ihrer eigenen Wahrnehmung ist das ganz anders. Sie ist wahnsinnig, aber bis wir das erfahren, glauben wir ihr und wollen, dass sie sich befreit, dass sie diesem furchtbaren Gefängnis entkommt.

Sie ist eine unzuverlässige Erzählerin par excellence, weil sie so glaubwürdig ist. Die Autorin hat das so gut hinbekommen, dass man es dann kaum glauben kann, als sich am Schluss herausstellt, dass das, was die Protagonistin uns erzählt hat, gar nicht wahr ist. Man ist dann so verunsichert, dass man gar nicht mehr so recht weiß, was man glauben soll. Das ist wirklich hohe schriftstellerische Kunst.

So ein Buch würde ich jederzeit veröffentlichen, dessen kannst Du sicher sein. 😊