Über das Schreiben
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Ich glaube, ich sollte hier vielleicht mal ein paar konkrete Beispiele für unzuverlässige Erzählerinnen/Erzähler einwerfen, damit das Konzept vielleicht etwas klarer wird. (Achtung, Spoiler!)

Zuerst ist mir der Film The Sixth Sense mit Bruce Willis in der Hauptrolle eingefallen. Während des ganzen Filmes begleiten wir Dr. Malcolm Crowe, wie sein Leben nach einem Attentat auf ihn immer mehr zerfällt. Wir fragen uns, warum seine Frau nicht mehr mit ihm redet und was es mit dem Jungen auf sich hat, der ihm gegenüber betont: „Ich sehe tote Menschen“.

Und am Ende stellt sich heraus, dass er das Attentat gar nicht überlebt hat, sondern tot ist. Aber er wusste das selbst nicht. Also hat er uns die ganze Zeit etwas erzählt, von dem er selbst nicht wusste, dass es nicht die Wahrheit ist.

Das gleiche Schema gilt für den Film The Others mit Nicole Kidman. Grace wohnt mit ihren beiden Kindern in einem Haus, in dem es spukt. Fensterläden und Vorhänge müssen geschlossen bleiben, weil die Kinder unter Lichtallergie leiden, doch dauernd sind sie von allein immer wieder offen, Schubladen öffnen sich, Möbel verrücken . . . das Personal, das Grace engagiert, verhält sich äußerst merkwürdig . . .

Schließlich eskaliert die ganze Situation, und Grace heuert eine Hellseherin an, um eine Séance zu veranstalten. Bei dieser Séance stellt sich heraus, dass „die Anderen“ gar nicht die Geister sind, sondern Grace und ihre Kinder. Die sind nämlich die ganze Zeit über tot und spuken herum, und die vermeintlichen Geister sind echte Menschen, die im Haus leben und von Grace als Geist terrorisiert werden. (Die von Grace eingestellten Hausdiener sind ebenfalls tot.)

Also hat uns und sich selbst Grace die ganze Zeit über eine Geschichte erzählt, die aus ihrer Perspektive wahr war, aber in der Realität hat sie nicht gestimmt.

Das sind mal zwei Beispiele, die mir spontan einfallen.

Es gibt aber noch mehr Filme (die mir jetzt nicht konkret in den Sinn kommen), in denen der/die Hauptdarsteller/in am Ende mit einer ganz anderen Realität konfrontiert werden, als sie die ganze Zeit über für Tatsache gehalten haben.

Und was macht das jetzt mit uns als Zuschauerin (Leserin)? Wir sind erst einmal genauso überrascht wie die Protagonistin/der Protagonist. Und dann – im Englischen gibt es den schönen Ausdruck everything falls into place – fügen sich die Puzzleteile zusammen. Ach, deshalb war das und das so und so, denken wir uns. Eine Art mehrfacher Aha-Effekt. Ich würde das vergleichen mit der Auflösung eines Krimis, wenn wir erfahren, wer der Mörder ist. Nur dass wir diesmal bis zur Auflösung gar nicht wussten, dass die Geschichte wie ein Krimi ist. Noch ein Aha-Effekt. Und solche Aha-Effekte lieben wir doch. Die Auflösung eines Rätsels. Ein unvorhergesehener Twist am Ende. Die vielen Ungereimtheiten, die uns vom unzuverlässigen Erzähler präsentiert wurden, bekommen eine Erklärung, werden klar.

Das alles regt uns zum Nachdenken über die Geschichte an. Wir gehen die Szenen durch, diesmal mit dem Wissen, dass alles ganz anders war als bislang angenommen. Wir staunen über die Genialität der Autoren/Autorinnen, uns so geschickt hinters Licht geführt zu haben, dass wir genauso wie die Erzählerin/der Erzähler nicht gemerkt haben, was eigentlich die ganze Zeit über los war.

Ich finde so was echt cool. 😎