Er lächelte leicht. »Wer kann so etwas schon wissen?«
»Das ist wahr.« Mara nickte. »Mit so etwas konnte wirklich niemand rechnen.«
»Und obwohl Sie hergekommen sind, halten Sie Ihre Cousine für schuldig?«, fragte Agustín jetzt.
»Wie?« Mara fiel fast der Honiglöffel aus der Hand. »Wie kommen Sie darauf?«
»Weil Sie so überrascht davon waren, dass ich sie für unschuldig halte«, antwortete Agustín schlicht.
Ein intelligenter Mann, dachte Mara. Da muss ich aufpassen, was ich sage.
»Nein, das war nur . . .« Sie beendete den Kampf mit dem Honig und dem Brötchen, indem sie hineinbiss. »Das war ein Missverständnis«, sagte sie dann, nachdem sie sich durch das Kauen und Herunterschlucken ein bisschen Bedenkzeit verschafft hatte. Ihr Blick schweifte kurz zu Sofie hinüber.
»Sie kann es nicht gewesen sein«, stellte Agustín ohne jeden Zweifel an seiner Aussage klar. »Davon bin ich fest überzeugt. Auch wenn ihr Handy in dem Zimmer war. Und sie selbst im Hotel. Das muss einen anderen Grund haben.«
»Sie haben sich viel mit dem Fall beschäftigt?« Mara wunderte sich ein bisschen, wie engagiert er war.
»Frauen wie die Doctora gibt es nicht viele«, antwortete er, diesmal ein wenig ausweichend.
Aha, dachte Mara. Er ist verliebt in sie.
Auch wenn er schon älter war, schien er das zu sein, was man einen stattlichen Mann nannte. Und hier in dieser Kultur spielte ein großer Altersunterschied zwischen einer Frau und einem Mann sicher keine entscheidende Rolle. Solange der Mann der Ältere war, konnte die Frau bestimmt auch noch ein halbes Kind sein. Das war vielleicht gar nichts Ungewöhnliches.
»Ich kenne eigentlich kaum mehr als das, was in den Zeitungen stand und im Internet«, sagte sie. »Das habe ich alles auf dem Flug gelesen.«
»Und was sagt die Doctora?«, fragte er.
»Nicht viel mehr.« Mara zuckte die Schultern. »Und natürlich, dass sie unschuldig ist. Was ich ihr hundertprozentig glaube.« Wieder warf sie einen Blick auf Sofie.
»Selbstverständlich«, nickte er. »Sind Sie zusammen aufgewachsen?«
Mara zögerte. »Nein«, sagte sie dann. »Unsere Familien waren sich nicht so . . . nah.«
Er musterte sie kurz, dann nahm er den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse, griff zu einer Kanne, die auf dem Tisch stand, und goss sich nach. »Was wollen Sie unternehmen?«, fragte er.
Unentschlossen blickte Mara in den Himmel. In den wolkenlosen Himmel, aus dem eine Sonne strahlte, die gar nicht die Sonne zu sein schien, die sie kannte. »Was kann ich unternehmen?«, wandelte sie seine Frage ab. »Das ist wohl eher das Problem.«
»Ich kenne den Comisario«, sagte er. »Er stammt aus meinem Viertel. Und schon da hatte er keinen guten Ruf.«
»Inwiefern?«, fragte Mara, lehnte sich zurück und nahm einen Schluck von dem Kaffee, den sie sich zwischenzeitlich eingegossen hatte.
Beinah hätte sie ihn allerdings wieder ausgespuckt, so stark war er. Sie verschluckte sich fast, um das zu vermeiden, und beugte sich hastig vor. Obwohl sie Kaffee normalerweise nie süß trank, löffelte sie Zucker aus der Zuckerdose hinein. Milch sah sie keine.
»Sagen wir mal so . . .«, erläuterte Agustín bereitwillig. »Er war früher das Gegenteil von einem Gesetzeshüter.«
Mara hob die Augenbrauen. »Er war kriminell?«
»Mitglied einer Jugendbande und später der Chef.« Agustín nickte nachdenklich mehrmals hintereinander. »Immer auf schnelles Geld aus.«
»Wie ist er dann Polizist geworden?«, fragte Mara erstaunt. »Wie konnte er das überhaupt werden?«
»Ach . . .« Agustín winkte ab. »Das ist kein Hinderungsgrund, wenn man die richtigen Leute kennt. Oder«, er spitzte die Lippen, »den richtigen Leuten nützlich ist.«
»Korruption?«, fragte Mara.
Er lachte leise. »Sie sprechen das so aus, als wäre das etwas Besonderes. Oder etwas Verbotenes. Hier ist es das Normale.«
Das musste Mara erst einmal verdauen. Obwohl sie theoretisch gewusst hatte, dass Korruption in Südamerika sehr verbreitet war, hielt sie es doch nicht für das Übliche. Aber sie schaltete schnell um. »Das heißt, er ist käuflich?«
»Hmhm.« Agustín nickte erneut. »Wie alle. Es ist nur eine Frage des Preises. Und da er sich in seiner Ehre gekränkt fühlt – was auch immer das sein mag –, weil die Doctora sich ihm widersetzt und nicht gesteht, ist es vielleicht ein sehr hoher Preis.« Er musterte sie. »Wenn Sie genügend Geld haben, kann die Doctora noch heute aus dem Gefängnis sein. Wenn nicht . . .« Er ließ die Schlussfolgerung offen.
»Ich bin nicht reich«, sagte Mara.
»Die Familie?«, fragte Agustín. »Ich habe mich immer schon gewundert, dass die Doctora keine Familie haben soll, die sich um sie kümmert. Bei uns ist das nicht üblich.«
Das brachte Mara ein bisschen in Bedrängnis, weil sie bezüglich der Familienverhältnisse, die zu all dem hier geführt hatten, nicht ins Detail gehen wollte. Außerdem hatte sie behauptet, sie gehörte selbst zu dieser Familie. Das konnte sie jetzt nicht mehr zurückziehen und das machte die Sache nun doch komplizierter, als sie angenommen hatte.
»Sie hat keine Familie«, behauptete sie deshalb. »Sie sind alle tot.«
»Oh.« Agustín wirkte betroffen. »Das tut mir leid.«
»Ich bin ihre letzte lebende Verwandte«, bekräftigte Mara die gerade erfundene Geschichte forsch. »Denn auch ich bin allein.«
In Gedanken leistete sie ihren Eltern und ihren Geschwistern Abbitte. Auch ein paar Onkel, Tanten und Cousinen ließ sie hier auf einen Schlag einfach so sterben. Aber manchmal musste man eben tun, was man tun musste.
»Hm«, machte Agustín wieder. Seine dichten Augenbrau-en bildeten ein Dach, das gefühlt seinen Schatten bis auf den Tisch warf. »Dann müssen wir andere Wege finden.«
»Wir?« Fragend blickte Mara ihn an.
»Die Doctora hat vielleicht keine Familie, aber sie hat Freunde. Hier«, sagte er. »Auch wenn sie manchmal so tut, als ob sie davon nichts wüsste. Sie will immer alles allein schaffen.«
»Ja.« Mara lächelte leicht. »Das stimmt. Sie hilft gern anderen, aber sie selbst nimmt nicht gern Hilfe an.«
»Aber wir müssen sie da rausholen«, sagte Agustín. Er stand auf und verneigte sich leicht, um sich zu verabschieden. »Ich werde einmal sehen, was ich tun kann.« Mit schweren, aber entschlossenen Schritten verließ er die Terrasse.
Ein paar Minuten herrschte Stille.
»Wie gut du lügen kannst . . .«, bemerkte Sofie dann plötzlich in diese Stille hinein mit einem gehässigen Unterton in der Stimme. »Aber Anwälte müssen das wohl können. Das gehört wahrscheinlich zur Berufsbeschreibung.«
Die Stille hatte Mara in eine Art Trance versinken lassen, die den blauen Himmel und die heiße Sonne zum Zentrum hatte. Und ihre Gedanken, die sich um Judith drehten. Aus dieser Trance schreckte sie nun unerwartet auf und starrte Sofie an.
»Was hast du eigentlich gegen mich?«, fragte sie. »Erst holst du mich her und dann beschimpfst du mich? Was soll das?«
»Cristó sagt –«
Mara rollte die Augen. »Gibt es für dich nichts Wichtigeres als diesen Kerl? Sagt er dir, was du denken sollst? Selbst wenn es deine eigene Familie betrifft?« Sie beugte sich vor. »Die einzige Familie, die du noch hast. Und die dich vor etwas gerettet hat, was schlimmer ist als der Tod?«
Jetzt sah Sofie bedripst aus. Aber ein Teenager ließ sich nicht so leicht etwas sagen, auch wenn es logisch klang und den Tatsachen entsprach. »Ach, lass mich doch in Ruhe!«, fauchte sie, sprang vom Tisch auf und verschwand im Haus.
Für einen Moment überlegte Mara, ob sie ihr nachgehen sollte. Aber dann entschied sie sich dagegen.
Das hatte sowieso keinen Sinn.
Und sie hatte jetzt Wichtigeres zu tun.
ENDE DER FORTSETZUNG