Schon wieder diese unbekannte ausländische Nummer. Irritiert schüttelte sie den Kopf. Sollte sie das überhaupt annehmen? Aber dann war sie zu neugierig, um es nicht zu tun.

»Ja?«, meldete sie sich fragend.

»Mara? Bist du das?« Eine sehr jugendliche Stimme. Aber sie kannte sie nicht.

»Ja?«, wiederholte sie noch einmal. »Und wer ist da?«

»Sofie«, sagte die Stimme.

Sofie. Sofie. Maras Stirn runzelte sich noch mehr, während sie überlegte. Welche Sofie denn? Sie kannte die eine oder andere Sofie, aber deren Stimmen kannte sie auch. Und diese war keine davon.

»Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«, fragte Sofie da. »Sofie Grabert. Du warst mal mit meiner Schwester zusammen.«

Mara wäre fast vom Stuhl gefallen. Wenn sie auf einem gesessen hätte. Doch sie stand. »Sofie?«, wiederholte sie ungläubig. »Aber das ist Jahre her.«

»Richtig. Jahre«, bestätigte Sofie nun beinah trocken, obwohl ihre Stimme ansonsten recht aufgeregt geklungen hatte.

Wie alt war Sofie jetzt? fragte Mara sich. Als sie sie zuletzt gesehen hatte, war sie noch ein Kind gewesen. Ein ziemlich kleines Kind.

»Ähm . . . Wie geht es dir?«, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie hatte nicht viel Erfahrung mit Kindern.

»Schlecht«, sagte Sofie. »Und Sylvia geht es noch schlechter. Sie sitzt im Gefängnis.«

»Sylvia?« Bald würden die Runzeln sich in ihre Stirn eingraben, wenn sie diese Bewegung so oft wiederholte. »Wer ist Sylvia?«

»Ach ja«, sagte Sofie. »Das weißt du ja gar nicht. Sie hat einen anderen Namen angenommen.«

Mara stutzte. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich einige der Gefühle wider, die sie empfand, angefangen von Unverständnis über Ungläubigkeit bis hin zu Ablehnung und Ärger, weil sie sich auf den Arm genommen fühlte.

»Wer auch immer Sie sind –«, setzte sie an, um der Anruferin die Leviten zu lesen und das Gespräch dann abzubrechen.

»Ich bin Sofie«, unterbrach die Anruferin sie jedoch sofort. »Das musst du mir glauben. Und meine Schwester braucht deine Hilfe. Ganz dringend.«

Fakten. Sie musste sich nach Fakten richten. Auch wenn die Gefühle durch ihren Körper rasten, als wäre alles wieder da. Alles von . . . damals.

»Was ist das für eine Ländervorwahl?«, fragte Mara. »Von wo rufst du an?«

»Chile«, sagte Sofie. »Wir leben jetzt in Chile. Schon lange.«

»Chile?« Kein Wunder, dass sie sie nicht gefunden hatte. Langsam hatte Mara das Gefühl, sie brauchte jetzt wirklich einen Stuhl. Sie ging zur Wand und lehnte sich dagegen. »Was macht ihr denn in Chile?«

»Wir leben hier. Sie arbeitet hier. Als Ärztin. Hat eine gutgehende Praxis.« Sofie war erstaunlich effizient mit ihren Auskünften. Als würde sie sie auf einer Checkliste abhaken. »Aber jetzt haben sie sie verhaftet.«

»Verhaftet?« Mara kam sich wie ein Echo vor. »Ist . . .« Sie räusperte sich. »Ist wieder etwas . . . passiert?«

Anscheinend schüttelte Sofie so heftig den Kopf, dass es durch das Telefon zu hören war. »Nein. Das heißt ja. Aber eigentlich nein. Es hat nichts mit ihr zu tun. Sie war nur zufällig da.«

Das war jetzt weniger effizient. Mara wunderte sich. »Ganz ruhig, Sofie«, sagte sie. »Ich verstehe kein Wort. Um was geht es denn überhaupt?«

»Um Mord«, sagte Sofie.

Nicht schon wieder wollte Mara Mord echoen, deshalb biss sie sich auf die Zunge. Sie räusperte sich. »Wie meinst du das?«, fragte sie.

»Wie ich es sage.« Auf einmal klang Sofies Stimme ziemlich erschöpft. »Ein gewisser François Dubois ist umgebracht worden. Und Sylvia soll es getan haben. Aber sie war es nicht!« Zu Erschöpfung gesellte sich nun noch Verzweiflung.

Mara hätte sicherlich bis zehn zählen können, bevor sie wieder sprach, so erschlagen war sie von dieser Information. »Davon gehe ich aus«, erwiderte sie, um Fassung bemüht. »Nur . . . Wie kommen die Behörden darauf?«

Sie stieß sich von der Wand ab, an der sie bis jetzt gelehnt hatte. Ihr ganzer Körper fühlte sich plötzlich an wie unter eine elektrische Spannung gesetzt.

»Ach, das ist hier – Cristóbal . . .« Der effiziente Zusammenhang, mit dem Sofie sich zu Anfang so beeindruckend präsentiert hatte, schien ihr verlorengegangen zu sein. »Du musst herkommen!«, fügte sie ihren letzten gestammelten Worten drängend hinzu. »Du bist doch Anwältin!«

Das brachte Mara dazu, hohl aufzulachen. »Aber nicht in Chile«, gab sie verdutzt zurück. »Außerdem bin ich keine Strafverteidigerin. Ich beschäftige mich nur mit Zivilsachen.«

»Aber du bist Anwältin«, wiederholte Sofie mit einer verzweifelten Kinderstimme. Etwas wie ein unterdrücktes Schluchzen drang aus dem Hörer. »Ich weiß, es ist Jahre her . . . und sie hat . . . wir sind . . . Aber du hast sie doch mal geliebt!«

Diese Aussage traf Mara wie ein Schlag. Vermutlich hatte irgendetwas in ihrem Gehirn da eine Blockade gebaut. Oder in ihrem Herzen.

Mit dem, was Sofie da gerade gesagt hatte, hatte sie sich nicht mehr beschäftigen wollen. Nie mehr. Aber es entsprach der Wahrheit. Auch wenn sie sich lange Zeit nicht mehr daran hatte erinnern wollen.

Sie schluckte. »Ihr müsst euch einen Anwalt vor Ort suchen«, sagte sie, um ihre juristische Stimme bemüht, die sie auch vor Gericht verwendete und die ihr ein wenig Abstand verleihen sollte. Keine Gefühle. Nur Fakten. »Jemand, der in Chile zugelassen ist. Und sich mit Strafrecht auskennt. Ich kann da gar nichts tun.« Sie lachte selbstironisch auf. »Ich spreche noch nicht einmal Spanisch. Nur ein paar Brocken aus dem Urlaub.«

»Aber du kennst sie.« Das Drängen in Sofies Stimme hatte sich in ein Flehen verwandelt. »Du weißt, dass sie so etwas niemals tun könnte. Dass sie unschuldig ist.«

Das weiß ich nicht, dachte Mara. Ich kenne sie nicht mehr. Vielleicht habe ich sie nie gekannt.

»Ähm . . . Ich kann hier nicht so einfach weg«, versuchte sie zu erklären. »Ich habe Termine. Die Akten in meiner Anwaltspraxis stapeln sich. Und meine Mandanten –«

»Sind wichtiger als Sylvia?«, nahm Sofie ihr das Wort aus dem Mund.

Wobei sie vergaß, dass der Name Sylvia Mara nichts bedeutete. Sie musste ihn erst in den Namen der Frau übersetzen, die sie einmal gekannt hatte. Die sie einmal geliebt hatte . . .

Ohne Übergang, aber als käme das Bild durch einen Nebel auf sie zu, sah sie sie wieder vor sich. Die Medizinstudentin, die sie kennengelernt hatte, als sie selbst noch Jurastudentin gewesen war. Wie jung sie gewesen waren . . . Jung. Verliebt. Sie holte tief Luft. Dumm.

Die Antwort, die den Fakten entsprochen hätte, wäre gewesen: Ja. Meine Mandanten sind wichtiger. Denn sie sind meine Existenz.

Aber sie sagte: »Ich werde mich mal erkundigen, wann der nächste Flug geht.«

5

»Sie haben Besuch.«

Sylvia blickte von der Pritsche auf, auf der sie saß, als die Gefängniswärterin sie durch die Gitterstäbe hindurch ansprach.

Innerlich seufzte sie auf, auch wenn sie das nach außen nicht zeigte. Das war sicher wieder der Comisario. Manchmal bestellte er sie zu sich ins Büro, manchmal kam er in ihre Zelle. Und immer unangekündigt. Er wollte sie mürbe machen.

Es konnte auch Cristóbal sein, der sie zum Comisario bringen sollte und dabei selbst noch versuchte, sich seine ersten Lorbeeren zu verdienen, indem er sie auf dem Weg in das Büro seines Chefs unter Druck setzte.

Hanna Berghoff: Geflohen ins Paradies

Vorsichtig blickte die große Frau sich um, als sie aus dem Hotelzimmer trat. Die ausladenden...
»Kannst du nicht mal eine einzige Stunde ohne Handy auskommen?«, fragte Sylvia seufzend. »Davon...
Sie zuckte die Schultern. »Was soll ich dazu sagen?« Gleichzeitig erhob sie sich. »Ein Glas Wein?«...
»Ich verstehe nur Bahnhof«, mischte Sofie sich unzufrieden ein. Ihr Blick wanderte zwischen...
»Sie waren dort. Man hat Sie gesehen«, wiederholte er mit kalter Stimme. »Und Ihr Handy beweist,...
Schon wieder diese unbekannte ausländische Nummer. Irritiert schüttelte sie den Kopf. Sollte sie...
Seit drei Tagen ging das so, und auch wenn sie nach außen hin den Anschein erweckte, dass sie das...
»Nicht deshalb.« Auch Mara stand wieder auf. »Du weißt ganz genau, dass das nicht der Grund war....
Erneut lachte Sylvia hohl auf. »Das wird nicht so einfach sein. Der Polizeipräfekt hat es...
»Das denke ich ja auch«, sagte Sofie. Sie rang die Hände. »Aber Cristó ist so davon überzeugt .....
Ja, es waren kranke Menschen. Ja, es waren Menschen, die Hilfe brauchten. Und Judith war eine...
Er lächelte leicht. »Wer kann so etwas schon wissen?« »Das ist wahr.« Mara nickte. »Mit so etwas...

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