»Nicht deshalb.« Auch Mara stand wieder auf. »Du weißt ganz genau, dass das nicht der Grund war. Der Grund war, dass du gegen die Regeln verstoßen hast. Du hast das Kind operiert, obwohl du keine Erlaubnis dazu hattest.«
Sylvias Schultern zogen sich zusammen, sodass sie auf einmal viel kleiner erschien. »Es war ihre einzige Chance«, flüsterte sie. »Sie wäre sonst auf jeden Fall gestorben. Und niemand wollte das Risiko auf sich nehmen.«
Mara nickte. »Ja. Das stimmt. Aber du hättest es auch nicht tun sollen.«
»Weil sie es nicht überlebt hat.« Das Flüstern war nur noch ein Hauch. »Weil das kleine Mädchen auf dem Operationstisch unter meinen Händen gestorben ist.« Wieder fühlte Sylvia das Entsetzen, das sie damals befallen hatte, als sie das erkannte.
Sie war so sicher gewesen, dass sie es schaffen könnte. Die anderen waren alle so feige, wollten das Kind einfach sterben lassen. Aber sie konnte das nicht. Es war doch nur ein Kind. Ein Kind, das sein ganzes Leben noch vor sich hatte. Ein Leben, das Ärzte ihm nahmen, die das Risiko nicht eingehen wollten.
Aber dann hatte sie es ihm genommen. Damals, vor fast zehn Jahren.
»Nein«, widersprach Mara. »Es wäre dasselbe gewesen, auch wenn sie überlebt hätte. Auch dann hätten sie dir die Approbation entzogen. Weil das verantwortungslos war.«
»Ich war nie verantwortungslos!« Erregt wirbelte Sylvia auf dem Absatz herum und starrte Mara mit dunkel glühenden Augen an. »Ich wollte nur immer das Beste für meine Patienten!«
Mara hob eine Hand, zögerte, sodass sie eine Weile in der Luft stand, doch dann überwand sie sich und legte sie auf Sylvias Arm. »Das weiß ich«, sagte sie leise. »Das weiß ich doch.«
Sylvia spürte diese Hand, die sie nur sanft berührte, wie ein glühendes Eisen. Die Hitze fraß sich in ihre Haut, als wäre es Säure, die sie innerlich und äußerlich auflöste.
Sie brach zusammen.
Ihr Körper krümmte sich noch mehr, bis ihr Rücken fast ein halbrunder Ball war. »Oh mein Gott, Mara«, hauchte sie hinter vorgehaltenen Händen. »Warum bist du gekommen?«
Mara holte tief Luft. »Weil Sofie mich angerufen hat. Weil du mir wichtig bist. Immer warst.« Beruhigend streichelte sie mit ihrer Hand ein wenig an Sylvias Rücken hinauf und hinab. »Die ganzen Jahre hat sich das nicht geändert. Ich habe dich nie vergessen.«
Dieses Streicheln überwand jeden Widerstand, den Sylvia noch in sich aufgebaut hatte. Jede Barrikade, mit der sie sich hatte schützen wollen. Sie taumelte an die Wand, die vor ihr noch den einzigen Halt bot.
»Flieg zurück«, brachte sie mühsam hervor. »Zurück nach Deutschland. Hier kannst du doch nichts tun.«
»Weißt du das so genau?«, fragte Mara. »Sofie ist davon überzeugt, dass du zu Unrecht hier im Gefängnis sitzt. Und ich auch.« Sie schüttelte den Kopf. »Auch wenn ich immer noch nicht so richtig weiß, worum es geht.«
»Haben sie dir das nicht gesagt?«, raunte Sylvia nur noch, als würde jemand durch die Wand sprechen. Selbst ein Flüstern verlangte ihr jetzt zu viel Kraft ab.
»Sofie hat von einem François Dubois gesprochen, der im Hotel umgebracht worden ist.« Mara lehnte sich neben Sylvia an die Wand und sah sie forschend von der Seite an. »Und dass du ebenfalls in diesem Hotel warst. Es stand auch noch einiges in der Zeitung beziehungsweise im Internet, das ich mir mit einer Online-Software übersetzt habe. Sie vermuten, dass du diesen François Dubois kanntest. Näher . . . kanntest«, setzte sie noch etwas zögernd hinzu.
»Sie vermuten, dass ich seine Geliebte war«, brachte Sylvia die zurückhaltenden Worte von Mara auf den Punkt. »Und dass ich ihn aus Eifersucht umgebracht habe. Weil er nämlich an jeder Hand zehn hatte.«
Mit einem Ruck richtete sie sich auf, ließ ihre Hände, die bislang ihr Gesicht bedeckt hatten, wie tote Gewichte herunterfallen und stand mit zusammengesunkenen Schultern da wie eine Verurteilte, die gleich zum Schafott geführt werden sollte.
»Aber das ist doch absurd«, sagte Mara. Sie hob ihre Arme und legte sie um Sylvia. »Du bringst doch niemanden um. Du doch nicht.«
Hohl lachte Sylvia auf. »Hast du vergessen, dass ich dieses Kind umgebracht habe?«
»Hörst du wohl auf!« Auch wenn sie kleiner war als Sylvia, zog Mara ihre Arme jetzt wie Stahlseile um sie zusammen. »Du bist Ärztin. Du rettest Leben. Du vernichtest sie nicht. Dafür hast du viel zu viel Respekt vor dem Leben an sich. Dass du um jeden Preis bewahren willst. Deshalb hast du dieses Kind operiert. Nicht um es umzubringen.«
Sylvia schluckte. »Du glaubst mehr an mich als ich selbst«, sagte sie leise.
»Irgendjemand muss es ja tun.« Mara bemerkte das so trocken, dass es fast ein Witz hätte sein können. Aber das war es nicht. Es war ihr tödlicher Ernst.
Das hörte selbst Sylvia heraus, die alle ihre Gefühle so tief in sich vergraben hatte, dass man nicht nur eine Schaufel, sondern einen Bagger gebraucht hätte, um sie wieder freizulegen. Im Moment hatte sie das Gefühl, dieser Bagger hieß Mara.
»Wir haben uns fast zehn Jahre lang nicht gesehen«, erinnerte sie Mara an die Tatsachen. »Du kennst mich nicht mehr, weißt nichts mehr von mir.«
»Menschen ändern sich nicht«, sagte Mara. »Du warst immer ein guter Mensch, und das bist du auch geblieben. Egal, was in den letzten zehn Jahren war.«
»Wie kannst du da so sicher sein?« Sylvia schüttelte den Kopf und drehte sich um, stand nun Mara direkt gegenüber, die immer noch ihre Arme um sie gelegt hatte.
»Ich bin es«, verkündete Mara schlicht. »Du wirst mich nicht vom Gegenteil überzeugen. Wenn das schon die letzten zehn Jahre nicht getan haben . . .«
Maras Arme um Sylvia waren stärker als jeder Halt, den die Wand ihr hätte geben können. Erschöpft sanken ihre Schultern auf Maras nieder, und ihr Körper wurde weich, als die verzweifelte Anspannung, die ihn bisher aufrechtgehalten hatte, ihn verließ.
»Ach, Mara . . .« Sie holte tief Luft. »Du kannst doch auch nichts tun.«
»Das habe ich schon oft gehört.« Maras Stimme, die genauso weich wie durchdringend sein konnte, lachte leise. »Und es stimmt so gut wie nie. Man kann immer etwas tun. Vielleicht nicht genau das, was man sich vorgestellt hat, aber dann ist es eben etwas anderes.«
»Ihr Anwälte.« Sylvia lachte ebenfalls leise, wenn auch unter Tränen. »Ihr gebt nie auf, oder?«
»Ich weiß nicht, ob das so im Allgemeinen für alle Anwälte gilt«, erwiderte Mara in einem leichteren Tonfall. »Aber für mich gilt es ganz sicher.« Sie hauchte einen Kuss auf Sylvias Haar. »Und du wärst jetzt nicht hier in Chile, wenn du damals aufgegeben hättest. Dann hättest du nämlich ganz bequem weiter in Deutschland Ärztin sein können. Aber es war dir wichtiger, ein Leben zu retten.« Sie stupste mit ihrer Schulter leicht gegen Sylvias Kopf, der darauf lag. »Also tu nicht so, als wärst du anders als ich.«
»Du hast dich wirklich nicht verändert, Mara.« Sylvias Mundwinkel zuckten.
»Sag ich doch.« Mara zuckte die Achseln. »Menschen verändern sich nicht. Und deshalb müssen wir jetzt etwas unternehmen, damit du hier rauskommst.«