Ravens Nemesis (Teil 4)
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- Veröffentlicht: Donnerstag, 15. Januar 2015 10:39
- Geschrieben von Ruth Gogoll
Reola hob die Augenbrauen. „Nicht? Wie meinst du das?“
„Die Mutter der nächsten Do-Lla muss ein Mitglied der sieben Familien sein. Sie muss ähnliche Fähigkeiten haben wie ich.“
Reola starrte sie an, und langsam verschwand das Strahlen von ihrem Gesicht, das Lachen aus ihren Augen. „Ich habe diese Fähigkeiten nicht, und ich gehöre nicht zu den sieben Familien.“
„Meine Mutter sagt, es sind viele junge Frauen hier aus den sieben Familien. Eine von ihnen –“
„Nein!“ Reola sprang auf und warf die Hände vors Gesicht. „Nein“, setzte sie dann flüsternd hinzu. Ihre Stimme versickerte.
„Ich weiß.“ Raven stand auf, kam zu ihr und nahm sie in den Arm. „Ich habe genauso entsetzt reagiert. Aber es ginge nur um das Kind – oder vielleicht mehrere. Meine Mutter sagt, mehrere wären besser.“
„Mehrere wären besser“, wiederholte Reola tonlos.
„Es hat nichts mit Liebe zu tun“, versicherte Raven ihr. „Ich liebe nur dich. Und das wird immer so bleiben.“
Ein Zittern lief durch Reolas mädchenhaften Körper. „Aber du musst mit dieser Frau schlafen. Mehrmals. Immer wieder. Bis sie schwanger ist. Und das nicht nur einmal. Jedes Jahr?“
„Es wäre ein rein technischer Vorgang“, behauptete Raven.
„Oh ja, sicher!“ Reola riss sich los und rannte wie blind durch den Garten, bis eine Mauer sie aufhielt. „Und wie soll diese Frau sich dabei fühlen? Wie eine Zuchtstute oder eine Gebärmaschine? Das tust du ihr an?“
„Sie gehört zu den Familien. Sie wird es verstehen.“
„Genauso wie ich es verstehen muss.“ Reolas Gesicht zeigte einen Ausdruck, den Raven noch nie auf ihm gesehen hatte. „Wir alle müssen verstehen, was ihr Do-Llas beschließt. Und euch gehorchen. Ist es nicht so? Ihr habt das Sagen. Wir kleinen Menschen ohne . . . Fähigkeiten haben nichts zu bestellen.“
„So ist es nicht . . .“
„Oh doch. So ist es.“ Reola presste die Lippen zusammen. „Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben, dass es so weitergehen würde wie im vergangenen Jahr? Das war nur eine Verschnaufpause, nicht wahr? Bis deine Mutter sich wieder erholt hatte und ihre Pläne weiterverfolgen kann, die für eine Weile auf Eis gelegt waren.“
„Das hört sich an, als wäre sie ein Tyrann, der alle unterdrückt“, protestierte Raven. „Sie ist das Gute. Sie garantiert, dass das Gute bestehen kann.“
„Tut sie das?“ Reola legte die Arme um sich. „Ich habe da so meine Zweifel. Du hast dich sehr verändert, seit du sie wiedergefunden hast. Ihr habt viel Zeit miteinander verbracht.“
„Meine Ausbildung . . .“
„Ja, das war es immer. Deine Ausbildung. Du und deine Do-Lla-Mutter. Du und deine Do-Lla-Beschützerin Lektra. Du und alles, was mit deinem Do-Lla-Sein zu tun hat.“ Reola blitzte sie an. „Aber das hat nichts mit mir zu tun. Ich will keine Do-Lla. Ich will eine Frau, die mich liebt, so wie ich –“ Sie brach ab und schluckte. „So wie ich sie liebe“, beendete sie den Satz dann sehr leise.
„Aber das tue ich.“ Raven ging auf sie zu. „Meine Liebe ist unveränderlich. Das hat nichts mit äußeren Umständen zu tun.“
„Äußere Umstände. So.“ Reola presste die Lippen zusammen. „Du meinst, dass du mit einer anderen Frau im Bett liegst, dass du sie liebst, dass du ihr ein Kind bescherst? Oder mehrere?“
Raven versuchte Reola in ihre Arme zu ziehen, aber sie wehrte sich, machte sich los, entfernte sich von ihr.
„Ich werde sie nicht lieben“, flüsterte Raven. „Das verspreche ich dir. Ich werde sie nie lieben. Immer nur dich.“
„Was wird sie sein?“, fragte Reola aufgebracht. „Deine Ehefrau? Deine Königin? Oder wie heißt das bei Do-Llas?“
Raven stand sprachlos da. Und ehrlich gesagt kannte sie die Antwort auf Reolas Fragen auch gar nicht. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen. Wenn es sie überhaupt interessiert hätte.
„Und was werde ich sein?“, fuhr Reola immer aufgebrachter fort. „Deine Geliebte, deine Nebenfrau? Die Frau, zu der du dich nachts schleichst, wenn du aus ihrem Bett kommst, wo du deine . . . Pflicht erfüllt hast?“
„Oh Gott.“ Raven legte eine Hand über ihre Augen. Sie hatte schon gewusst, dass es nicht einfach werden würde, aber so schlimm hatte sie es sich nicht vorgestellt. „Zwischen uns wird sich nichts ändern.“ Zwischen uns darf sich nichts ändern, dachte sie und nahm die Hand herunter. „Mir geht es genauso wie dir. Ich habe es heute erst erfahren, und ich . . . ich . . .“ Ihr fehlten die Worte. „Ich weiß doch auch nicht, was ich tun soll“, fügte sie unglücklich hinzu.
„Sag deiner Mutter, dass sie sich diese ganze Idee abschminken kann“, schlug Reola vor. „Du bist erwachsen. Und bis vor einem Jahr hast du sie nicht einmal gekannt.“
Raven hob hilflos die Arme. „Ich wollte mich weigern, aber . . . aber es gibt so viele Dinge, die dabei berücksichtigt werden müssen.“
„Dinge?“ Reola brauste erneut auf. Noch nie hatte Raven sie so wütend erlebt. „Dinge? Wie wäre es denn mit Menschen, die berücksichtigt werden müssen? Oder sind Menschen Dinge für euch, die ihr ja so . . . übermenschlich seid?“
„Reola, bitte . . .“ Raven streckte flehend eine Hand aus. „Können wir denn nicht vernünftig darüber reden? Vielleicht könnte es meine Mutter dir auch besser erklären . . .“
„Deine Mutter? Nein, danke!“ Reola glitt an der Mauer hinunter, bis sie kniete. „Wofür hält sie mich? Für dein . . . Haustier, mit dem du spielst, solange bis der Ernst des Lebens beginnt – mit deiner richtigen Frau?“
„Das denkt sie bestimmt nicht.“ Raven ging zu ihr und kniete sich neben sie. „Es ist alles so kompliziert, ich verstehe es ja selbst noch nicht. Mein Leben war manchmal nicht einfach, bevor ich wusste, wer ich bin, aber jetzt . . .“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich dachte, endlich einmal könnte ich –“, sie schaute Reola zärtlich an, „könnten wir glücklich sein. Aber anscheinend ist es wichtiger, dass die anderen glücklich sind.“
„Lass uns weggehen.“ Reolas Augen hefteten sich hoffnungsvoll auf sie. „Du brauchst das alles hier nicht, und ich auch nicht. Wir suchen uns irgendwo einen schönen Platz, wo uns niemand kennt. Wo niemand weiß, wer du bist.“ Sie lehnte sich gegen Raven. „Nur wir zwei, ganz allein.“
Raven umarmte sie. „Es wäre so schön, wenn das ginge.“
„Warum denn nicht?“, flüsterte Reola. Es klang, als ob Tränen ihre Stimme halb erstickten. „Du bist mächtiger als alle Menschen auf dieser Welt. Du kannst tun, was du willst. Niemand könnte dich daran hindern.“
„Nein, das könnte wohl niemand.“ Raven hielt sie ganz fest. „Aber wenn meine Mutter nicht mehr da ist . . . und wenn ich nicht mehr da bin . . . hat das Böse freie Bahn. Macht ist in erster Linie Verpflichtung. Je mehr man davon hat, desto mehr ist man verpflichtet, sie für das Wohl aller zu nutzen.“
Reola gab ein hohles Geräusch von sich. „Das klingt nach deiner Mutter. Oder Lektra.“
„Ja.“ Raven seufzte. „Aber es ist auch die Wahrheit. Würdest du wollen“, sie hielt Reola ein wenig von sich weg und blickte ihr ernst ins Gesicht, „würdest du wollen, dass die Kinder wieder das Lachen verlernen? Dass Menschen sterben, weil sich niemand um sie kümmert? Qualvoll sterben, unglücklich, jedem Mutwillen einer bösen Königin ausgeliefert?“
„Adriana ist tot“, wandte Reola ein. „Es gibt keine böse Königin mehr.“
„Vor Adriana gab es andere – und nach ihr könnte es wieder andere geben“, sagte Raven. „Es gab wohl schon einmal eine Zeit, als man dachte, das Böse wäre ausgerottet, aber das war es nicht.“
„Aber . . . aber . . .“ Reolas feucht glänzende Augen suchten verzweifelt nach einem Halt in Ravens. „Aber jetzt ist es doch nicht da. Jetzt könnten wir glücklich sein. Du kannst ja dann eingreifen, wenn du gebraucht wirst. Irgendwann.“
Raven verzog unglücklich das Gesicht. „Manche Dinge, die ich noch lernen muss, erfordern jahrelange Übung. Ich kann nicht einfach aufhören.“
„Bestimmte Dinge erfordern anscheinend überhaupt keine Übung!“ Reola sprang auf. „Zum Beispiel ein Kind zu zeugen. Bis vor kurzem wusstest du noch nicht einmal, dass du das kannst!“
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