Gedanken
Ruth Gogoll und andere Autorinnen schreiben über Themen, die sie bewegen.

Der letzte Tag des Jahres. Immer ein wichtiger Zeitpunkt, um ein Resümee zu ziehen. Jedes Jahr wieder neu, und dieses Jahr besonders. In diesem Jahr, in dem die meisten von uns fast wie aus einem Dornröschenschlaf gerissen wurden, weil schon so lange nichts mehr passiert war, das die ganze Welt für so lange Zeit in Aufruhr versetzte und auch wirklich jeden einzelnen betraf. Den einen mehr und den anderen weniger, aber niemand konnte sich dem Thema entziehen.

Ich habe zeitweise das Haus so gut wie überhaupt nicht mehr verlassen. Was für mich als Schriftstellerin jetzt nicht etwas so Besonderes ist, aber normalerweise tue ich es freiwillig, weil ich eben immer am Schreibtisch sitzen und schreiben muss. In diesem Jahr wurde ich praktisch auch noch darüber hinaus dazu gezwungen.

Oftmals ist es jedoch so, wenn man zu mehr Ruhe gezwungen wird, hat das zum Schluss doch einen Sinn. Ich arbeite extrem viel, mache kaum Pausen, habe kein Wochenende und keinen Urlaub. Da ich älter werde, möchte ich auch ein wenig etwas für meinen Körper tun, wenn ich schon den ganzen Tag am Schreibtisch sitze, und betreibe deshalb regelmäßig ein bisschen Sport, ein paar Mal die Woche. Dazu musste ich immer das Haus verlassen, und das war eigentlich gut.

Nun wurden die Sportstudios geschlossen, man durfte sich nicht mehr auf der Straße in Gruppen beispielsweise zum Walken treffen, alles wurde auf das für die Existenz unbedingt Erforderliche heruntergefahren. Das wirft für mich die Frage auf: Was ist eigentlich für die eigene Existenz erforderlich?

Zum Schluss ist das natürlich klar. Essen und trinken, schlafen und wenn möglich ein Dach über dem Kopf. Obwohl das nicht für alle Menschen auf der Welt zutrifft. Essen, trinken und schlafen müssen jedoch auch diejenigen, die kein Dach über dem Kopf haben. Also ist das die absolut minimalste Grundlage der Existenz.

So weit wurde das Leben der meisten jedoch gar nicht eingeschränkt, auch wenn einige so laut geschrien haben, dass man hätte meinen können, es wäre so. Was ein Zeichen dafür war, wie egoistisch und selbstbezogen unsere Welt geworden ist. Weshalb diese Pandemie vielleicht gerade zur richtigen Zeit kommt. Denn sie gibt uns Gelegenheit, einmal wieder darüber nachzudenken, was wirklich wichtig im Leben ist. (Kleiner Hinweis: Partys sind es nicht. 🙂)

Das Wichtigste im Leben ist, dass wir in uns selbst ruhen, dass wir uns nicht von irgendwelchen Pandemien und auch nicht von irgendwelchen Schreihälsen verunsichern lassen. Ich selbst muss wissen, was ich will, was ich kann und was ich möchte. Äußerliche Umstände können an dieser inneren Sicherheit nichts ändern. Sie können das Leben unangenehmer machen, aber nicht mehr.

Oftmals sind es jedoch gar nicht die Umstände selbst, die das Leben – vielleicht – unangenehmer machen, sondern wie manche Leute darauf reagieren. Jede Herausforderung, welcher Art auch immer, ist vor allem eine Chance. Nicht eine Chance, herumzuschreien und sich gegen alles zu wehren, was sinnvollerweise getan werden muss, um dieser Herausforderung zu begegnen, sondern eine Chance zu lernen. Zu lernen sich anzupassen, zu lernen, sich selbst neue Horizonte zu eröffnen, zu lernen, nicht nur sich selbst zu sehen, sondern auch die anderen. Mitleid zu lernen und auch Empathie. Zu helfen, wo Hilfe erforderlich ist, ohne viel zu fragen.

Das alles sollte man eigentlich für selbstverständlich halten, aber wie die Reaktionen auf diese weltweite Herausforderung gezeigt haben, ist es für viele tatsächlich nicht selbstverständlich. Sie sehen nur sich selbst, ihre eigenen Bedürfnisse, die sie befriedigen wollen, egal ob sie andere Menschen damit gefährden. Das ist der pure Narzissmus. Darüber hatten wir hier auf dieser Seite ja kürzlich erst gesprochen.

Dieses Jahr hat gezeigt, dass wir in unserer sozialen Entwicklung noch lange nicht so weit sind, wie wir uns eingebildet haben. Wir sind noch immer sehr weit davon entfernt, eine wirklich soziale Gesellschaft zu sein. Deshalb war dieses Jahr gut, denn eine Gesellschaft, in der jeder alles immer und zu jeder Zeit haben kann, was er sich wünscht, ist eine Gesellschaft, die stehenbleibt. Wo es keine Herausforderungen gibt, entwickelt sich nichts weiter. Status quo ist Rückschritt.

Die Social Media vermitteln uns den Eindruck, wir wären alle so sozial und hätten so viele Freunde. Das können wir auf Facebook, Instagram, Tumblr, Twitter oder sonstwo ablesen. Meinen wir. Doch das ist eine Irrmeinung. Denn sind all diese Leute, denen ich nicht mehr wert bin als ein Klick auf einer Webseite – wenn überhaupt das –, wirklich meine Freunde? Nein. Es ist nur eine Zahl auf einem Bildschirm.

Diese Zahl hat keinerlei Bedeutung. Was wirklich Bedeutung hat, das sind wirkliche Freunde. Wahre Freunde Und von denen findet man nur wenige im Leben. Ich glaube, das kann ich durchaus so sagen, da ich nun ja schon ein bisschen älter bin. 🙂 Die Erfahrung über die vielen Jahre eines Lebens lehrt, dass Menschen vor allen Dingen ihre eigenen Ziele verfolgen. Dieses Jahr hat das erneut bewiesen.

Ziele zu verfolgen ist eine gute Sache. Denn wer kein Ziel hat, kommt nirgendwohin, weder im Leben noch mit dem Fahrrad. 😉 Die Frage ist nur, verfolgt man diese Ziele ohne Rücksicht auf Verluste oder verfolgt man sie achtsam und mit Rücksicht auf andere? Da scheidet sich die Spreu vom Weizen. Gute Menschen denken nicht immer nur an sich selbst, sind rücksichtsvoll, auch wenn es ihnen im Moment unbequem ist und sie sich dadurch selbst einschränken müssen. Wenn man solche guten Menschen vor der Pandemie zu Freunden hatte, hat man sie jetzt immer noch. Denn sie halten zu einem. Durch Freud und – was noch viel wichtiger ist – durch Leid.

Wenn man vor der Pandemie eine Menge „Freunde“ hatte, die nur wie ein Teil einer Zahl auf einer Webseite waren, hat man jetzt vermutlich sehr viel weniger Freunde. Falls man ihre Hilfe gebraucht hätte. Solche Schönwetterfreunde sind verschwunden, sobald auch nur das kleinste Wölkchen am Himmel erscheint. Und diese Pandemie war und ist unzweifelhaft mehr als nur ein kleines Wölkchen.

Möglicherweise tauchen sie wieder aus dem Nebel auf, sobald das Gewitter vorbei ist, aber dann muss man sich selbstverständlich fragen: Will man sie überhaupt noch? Sind solche „Freunde“ überhaupt irgendetwas wert?

Deshalb sage ich, solche Herausforderungen wie dieses Jahr sind gut. Wenn das Leben zu bequem wird, wenn es keine Herausforderungen mehr an uns stellt, können wir uns zu leicht zu sehr in Sicherheit wiegen. Uns auch selbst belügen, dass das das Normale ist. Schaut man die Geschichte der Menschheit an, ist das das Gegenteil von normal. Alle Nase lang gab es Kriege, Krankheiten, Pest und Cholera, die halb Europa entvölkert haben, und das war sehr lange Zeit normal. Erst seit sehr kurzer Zeit, seit Ende des Zweiten Weltkrieges, können zumindest wir hier in Westeuropa auf eine längere Periode des Friedens zurückblicken.

Diese Pandemie hat uns wieder daran erinnert, wie glücklich wir sein sollten, dass wir seit 1945 keinen Krieg mehr hatten und in Ruhe und Frieden leben konnten. Statt es als selbstverständlich zu betrachten, sollten wir es als etwas Besonderes schätzen, als ein großes Geschenk, das uns jederzeit wieder weggenommen werden kann, wie dieses Jahr gezeigt hat.

Auch sollte uns klar sein, dass der Frieden, den wir so selbstverständlich finden, wirklich aktiv erhalten werden muss. Das Virus, das uns in diesem Jahr so aufgescheucht hat, muss nicht das letzte gewesen sein. Es können weitere kommen, sogar noch weit gefährlichere. Deshalb sollte man seine Masken nach der Entwarnung bezüglich Corona vielleicht nicht gleich wegwerfen.

Das meine ich jedoch nicht nur in Bezug auf Masken. Es soll auch eine Metapher sein dafür, dass wir aus dieser Herausforderung etwas für unser zukünftiges Leben mitnehmen sollten. Ich persönlich hoffe, dass einige aus dieser Erfahrung vielleicht etwas gelernt haben. Zum Beispiel, dass es Wichtigeres im Leben gibt als das eigene Vergnügen oder die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Dass man sich auch um andere Menschen kümmern sollte, nicht nur um sich selbst, denn diese anderen Menschen könnten auch ganz schnell weg sein.

Dass soziale Kontakte nichts Selbstverständliches sind, das man so nebenher mit einem Klick erledigt. Was Freundschaft bedeutet und wie wertvoll sie ist. Dass es einen Unterschied gibt zwischen Tausenden von „Freunden“ auf Facebook oder auf Partys und dem einen wahren Freund oder der einen wahren Freundin, die einem dann wirklich die Hand hält, wenn es einem schlecht geht, und nicht gleich verschwunden ist, weil man nichts mehr zu ihrem Vergnügen beiträgt, für das sie einen bequemen Klick abliefern kann, ohne sich weiter anstrengen zu müssen.

Das Ende eines Jahres ist grundsätzlich immer eine nachdenkliche Zeit, aber am Ende dieses Jahres ist Nachdenken wirklich angesagt, finde ich. Wenn einen ein Jahr wie dieses nicht zum Nachdenken bringt, was dann? Denkt man dann überhaupt nach?

Für uns hier bei el!es war dieses Jahr ein sehr arbeitsreiches, wie eigentlich jedes Jahr. Dennoch freuen wir uns, dass wir dieses Jahr vielen Menschen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnten, die sonst vielleicht nicht viel zu lachen gehabt hätten. Wenn unsere Bücher ein wenig dazu beigetragen haben, dieses Jahr etwas weniger traurig zu gestalten und der Anstrengung Erholung und Entspannung entgegenzusetzen, um einmal von all dem Wahnsinn draußen abschalten zu können, sind wir sehr stolz.

Wir hoffen, dass die Herausforderungen dieses Jahres bald der Vergangenheit angehören und dass wir uns solchen Herausforderungen – wie viel man auch daraus lernen kann – nicht so bald wieder stellen müssen, damit wir uns ein wenig erholen können.

Das Jahr 2021 möge Ruhe und Frieden einkehren lassen, wo er uns in diesem Jahr so brutal und abrupt geraubt wurde. Es möge aber auch ein Jahr sein, in dem das Nachdenken nicht aufhört. Das Nachdenken auch über den Sinn des Lebens, der sich nicht aus Äußerlichkeiten ergibt, sondern aus unserem inneren Wesen.

Wer innerlich in sich ruht und weiß, wer er ist, dem ist es völlig egal, ob er eine Maske tragen muss oder nicht, ob er sich in seinen persönlichen Freiheiten einschränken muss, um sich und andere zu schützen, ob er zu Hause allein ein Buch liest oder mit Freunden feiert. Er ist immer er selbst. Sie ist immer sie selbst. Daran ändert sich absolut nichts.

In unseren Büchern versuchen wir, dieses Gefühl zu vermitteln. Und das werden wir auch im Jahre 2021 tun, wie wir es die ganzen letzten 24 Jahre getan haben, denn wie ja alle wissen wird 2021 ein ganz besonderes Jahr für uns, das Jahr des 25jährigen Bestehens unseres Verlages, der édition el!es.

Auch wenn dieser Silvestertag so ist wie kein anderer in den vergangenen 24 Jahren, werden wir es doch genießen, das 25. Jahr von el!es am Horizont erscheinen zu sehen und es um Mitternacht mit einem Glas Sekt begrüßen.

In diesem Sinne wünsche ich allen ein besonders leckeres Glas Sekt zu Mitternacht und viel freudige Erwartung für das nächste Jahr, das Jahr 2021, das 25. Jahr von el!es mit vielen wunderschönen Büchern von wunderbaren Autorinnen, die mit uns dieses Vierteljahrhundert lesbischer romantischer Literatur feiern wollen und werden.

Einen guten Rutsch und Frohes Neues Jahr! 🍾