Über das Schreiben
Artikel und nützliche Informationen rund um das Thema »Schreiben«

Die Beispiele zeigen glaube ich ganz deutlich, dass Deine Heldin auf dem Motorrad keine unzuverlässige Erzählerin ist, Manuela. 🙂 Da sie genau weiß, was die Realität ist und sich auch in der befindet, in ihr handelt und denkt. Es gibt keine Brüche, keine unerklärlichen Ereignisse, die sich erst dann erklären, wenn man weiß, dass sie z.B. tot ist. Sie ist nicht tot, sie weiß das auch und sie lebt in der realen Welt. Sie als Figur ist eine zuverlässige Erzählerin. Und auch die Erzählerin in der Geschichte, die nicht unbedingt mit dieser Figur übereinstimmen muss, erzählt die Geschichte zuverlässig.

Das ist eben das Schwierige an diesem Konzept. Was ich auch schon einmal zu beschreiben versucht habe. Du als Autorin musst wissen, dass es Tag ist, auch wenn die unzuverlässige Erzählerin davon überzeugt ist – und auch die Leserinnen davon überzeugt –, dass es Nacht ist. Sie sieht das Licht nicht, für sie herrscht Dunkelheit. Das ist aber nicht real. In Wirklichkeit ist es heller Tag. Das weiß sie aber nicht. Wenn es so ist, dann ist sie eine unzuverlässige Erzählerin.

Was Du geschrieben hast, war nur so eine der üblichen Verschleierungstaktiken innerhalb des zuverlässigen Erzählens, das hat mit unzuverlässigem Erzählen nichts zu tun. Wenn Hanna beispielsweise Franzi zur Hauptfigur macht und wir alles nur durch Franzis Augen sehen, wird Franzi uns als sympathisch und missverstanden und leidend erscheinen. Sie wird sich einige Dinge nicht erklären können, und die werden dann auch uns unerklärlich erscheinen. Wir werden nicht denken, dass sie lügt, sondern wir werden ihr glauben, dass sie immer nur das arme Opfer ist, dass die anderen böse sind.

Deshalb ist es auch gar kein Problem, eine solche Figur sympathisch erscheinen zu lassen. Denn in ihren eigenen Augen ist sie das, und das ist auch das, was sie uns vermittelt. Man könnte beispielsweise auch wieder Rebecca als Beispiel nehmen. Wenn wir ein Buch hätten, das die Welt aus Rebeccas Sicht beschreibt, zu dem Zeitpunkt, als sie noch lebte, würde uns ihr Ehemann und würde uns die zweite Mrs de Winter als böse erscheinen. Wir würden gar nicht wissen, dass sie das nicht sind, weil unser ganzer Blick durch Rebecca gefiltert wird. Weil wir die Welt nur so sehen können, wie sie sie sieht.

Wir hätten beispielsweise Mitleid mit ihr, weil sie so einen kalten Mann geheiratet hat, der ihr keine Liebe gibt, dass sie gezwungen ist, sich andere Liebhaber zu suchen, damit sie auch nur ein bisschen Zärtlichkeit bekommt. Wir würden das verstehen und würden Maxim de Winter für sein liebloses Verhalten hassen. Weil Rebecca das auch tut.

Maxim könnte der liebste und netteste Mensch sein, wir würden es gar nicht erfahren, weil wir die Lügen, die Rebecca uns über ihn erzählt, glauben würden. So wie es auch im realen Leben ist. Da gibt es böse Menschen, die Lügen über andere erzählen, sie sogar ruinieren, und wir denken, die ruinierten Menschen sind die Bösen, hätten sich das selbst zuzuschreiben. Wir glauben den Bösen, weil wir denken, dass sie die Guten sind, und verurteilen die Guten, weil wir denken, dass sie die Bösen sind. Wir selbst sind dabei gar nicht böse, haben auch keine böse Absicht, wir glauben nur den falschen Leuten.

Genauso funktioniert das in einem Buch. Wir Autorinnen machen die Leserinnen glauben, dass die Welt, so wie wir sie beschreiben, existiert. Zumindest für die Länge der Geschichte in einem Roman. Wir beschreiben fiktive Ereignisse, aber sie dürfen nicht fiktiv erscheinen. Die Figuren müssen genauso lebensecht und real erscheinen wie ihre Handlungen, wie die Umstände.

Der einzige Unterschied ist, dass wenn wir sagen, es ist Tag, dann ist es in der Geschichte auch Tag und nicht Nacht. Und die Leserinnen sind sich dessen bewusst, dass sie eine Geschichte lesen, dass das keine realen Ereignisse sind, nicht die Nachrichten, nicht die Tagesschau. Das ist die Übereinkunft, die man trifft, wenn man Roman auf ein Buch schreibt.

Wenn wir behaupten würden, das alles wäre wirklich passiert, und wir das selbst auch glauben würden, dann wären wir eine unzuverlässige Erzählerin, dann wären wir Franzi. Denn wenn es reale Ereignisse sind, die wir beschreiben, bezeichnet man das nicht als Roman, sondern als Autobiographie oder als Dokumentation.

Also wenn Du aus Franzi eine sympathische unzuverlässige Erzählerin machst, Hanna, könnte es funktionieren. 🙂