Über das Schreiben
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Danke, Manuela, für Deine sehr bildhafte Illustration. 🙂 So, wie Du das darstellst, habe ich am Anfang tatsächlich geglaubt, dass Deine Heldin die Gute ist. Ich bin da nicht auf die Idee gekommen, dass diejenigen, die sie verfolgen, Polizisten sein könnten. Aber Deine Heldin erscheint nicht unbedingt wie ein lügnerischer Mensch, wie es für Franzi zutrifft. Sie macht einfach nur ihren Job, wenn man so will, und sie hat eine etwas andere Auffassung von richtig und falsch oder vielleicht auch von der Rechtslage. Sie weiß aber hundertprozentig, dass das, was sie tut, verboten ist, auch wenn sie es vielleicht nicht für falsch hält oder für ihr gutes Recht. Da würde ich bei Franzi von einer anderen Ausgangslage ausgehen.

Franzi würde auf keinen Fall etwas, das sie tut, für falsch oder sogar verboten halten. Wenn sie etwas gestohlen hätte und die Polizei käme, würde sie nicht fliehen, sondern sich wundern, was die von ihr wollen. Oder sich noch nicht einmal wundern. Sie würde ganz klar davon ausgehen, dass das ihr gutes Recht ist, was sie da tut. Allein aus dem Grund, weil sie das eben gerade tun will. Wenn sie etwas haben will, dann nimmt sie es sich, ohne schlechtes Gewissen und ohne Rücksicht auf Verluste oder auf die Gefühle anderer.

Deine Heldin erscheint mir da anders. Sie stiehlt etwas und läuft weg, weil sie weiß, dass sie etwas getan hat, das sie nach den allgemeinen Regeln der Gesellschaft (und nach dem Gesetz) nicht hätte tun sollen. Das ist ihr vollkommen klar. Sie versucht nicht, den Eindruck zu erwecken, dass es ihr gutes Recht ist zu stehlen. Deshalb ist sie für mein Empfinden eigentlich keine unzuverlässige Erzählerin.

So, wie ich es verstanden habe, wäre sich eine unzuverlässige Erzählerin nicht dessen bewusst, dass sie etwas tut, was gegen die Regeln verstößt und was sie nicht tun sollte. Sie hat sogar eher das Gefühl, die anderen verstoßen gegen die Regeln. Deine Heldin stellt beispielsweise nie in Frage, dass die Polizisten das Recht haben, sie zu verfolgen. Sie wehrt sich zwar dagegen, aber sie stellt sich nicht hin und sagt: „Das dürft ihr nicht. Der Schmuck gehört mir. Was fällt euch eigentlich ein, ihn mir wieder wegnehmen zu wollen?“ Deine Heildin weiß, dass der Schmuck ihr nicht gehört.

Wenn Franzi etwas stehlen würde, würde sie das nicht für Stehlen halten, sondern sie hätte ihrer eigenen Meinung nach einen Anspruch darauf. Sie hat sich nur etwas genommen, das ihr ohnehin schon gehört. Es gehört ihr einfach deshalb, weil sie es haben will. Und wenn sie die Erzählerin wäre, würde sie das auch so darstellen. Sie würde die Polizisten als die Gesetzesbrecher darstellen. Für die Leserin würde es so erscheinen, als ob die Polizei kein Recht hätte, das zu tun, was sie tut. Nur Franzi hat das Recht, alles zu tun, was immer sie will. Das ist ihre Geisteshaltung und ihre Sicht der Welt.

Das ist das ausgesprochen Schwierige daran. Deine Geschichte wäre zum Schluss eine ganz normale Geschichte, bei der man das, was erzählt wird, durchaus glauben kann. Die meisten Sachen stimmen ja. Nur gerade am Anfang erscheint Deine Heldin nicht ganz als das, was sie tatsächlich ist.

Bei Franzi müsste es so sein, dass man bis zum Schluss nicht weiß, was die Wahrheit ist. Möglicherweise darf das dann auch gar nicht aufgeklärt werden. Es muss eine gewisse Unsicherheit bleiben, ob Franzi die Wahrheit sagt oder wer auch immer die andere Person ist, die das Gegenteil behauptet. Eine Liebesgeschichte würde dadurch unmöglich. Und das ist jetzt mein Problem.