Gedanken
Ruth Gogoll und andere Autorinnen schreiben über Themen, die sie bewegen.

Wir haben uns ja schon im Vorfeld zu Deinem Artikel hier auf der Webseite über Narzissmus unterhalten, Kristin. Und ich finde es sehr interessant, das mal aus einer professionellen Perspektive erläutert und genauer definiert zu bekommen. Wie oft wundert man sich über die Reaktionen von Leuten, die man sich einfach nicht erklären kann?

Wenn das nur entfernte Bekannte sind oder Familienmitglieder, die man nur einmal im Jahr an Weihnachten sieht, ist das bei solchen Gelegenheiten zwar vielleicht unangenehm bzw. das eigentlich schöne Fest störend oder man fasst sich an den Kopf, aber man trennt sich wieder und kann für diese kurze Zeit eventuell darüber hinwegsehen. Aber was ist, wenn man mit so jemandem in einer Beziehung lebt? Oder wenn es die eigenen Eltern oder Geschwister sind, die narzisstisch sind? Oder – ich weiß nicht, was schlimmer ist – sogar die eigenen Kinder? Außerhalb des privaten Lebens gibt es zudem auch noch das Berufsleben, in dem man an narzisstische Chefs oder Chefinnen geraten kann oder narzisstische Kolleginnen und Kollegen haben kann.

Das alles kann sehr belastend werden. Das Thema Mobbing steht da sofort im Raum. Denn wer sind sie, diese Leute, die andere Leute mobben? Das können doch nur Narzissten sein. Oder irre ich mich da?

Bis vor kurzem, bevor Du mich über das Thema aufgeklärt hast, habe ich da wirklich wie der Ochs vorm Berg gestanden, wenn mir solche Reaktionen begegnet sind. Für mich war es immer ganz normal, andere Leute anständig und mit Respekt zu behandeln (ehrlich gesagt habe ich lange Zeit gar nicht verstanden, wie es anders sein könnte), und dann bekam ich plötzlich eine Reaktion vor den Latz geknallt, als hätte ich dem anderen Menschen etwas ganz Schlimmes getan. Als hätte ich ihn tief beleidigt oder sogar persönlich angegriffen. Ich wusste überhaupt nicht, wie mir geschah, und aus heiterem Himmel war ich die Böse, ohne mir irgendeiner Schuld bewusst zu sein.

Ich habe dann versucht, diesen Menschen entgegenzukommen, sie noch freundlicher und respektvoller zu behandeln, aber das Ergebnis war eher das Gegenteil von dem, dass alles wieder normal wurde. Sie haben mich noch mehr in den Boden gestampft, und ich konnte machen, was ich wollte, alles war falsch und ich war schuld. In den Augen dieser Menschen, denen ich nie etwas getan hatte. Sie mir jedoch durchaus. Das schienen sie aber gar nicht zu merken. Sie haben sich auch nie dafür entschuldigt. Sie waren einfach der Meinung, sie haben recht, und deshalb brauchen sie das nicht.

Eine Weile dachte ich, das liegt an mir. Ich mache irgendetwas falsch. Oder ich bin sogar verrückt oder völlig falsch gepolt. Bis ich dann fast genau dieselben Geschichten von anderen hörte. Geschichten, die überhaupt nichts mit mir zu tun hatten, an denen ich nie beteiligt gewesen war, wo ich die Beteiligten nicht im Entferntesten kannte, weil es beispielsweise Leute waren, deren Geschichten ich nur auf dem Internet fand.

Auf einmal dachte ich: Warte mal. Die haben dasselbe erlebt wie ich? Haben sich ganz ordentlich und anständig verhalten, sich vielleicht sogar für andere (ihre Eltern, ihre Kinder, ihre Geschwister, ihre Freunde und Bekannten, ihren Chef, ihre Kollegen und, und, und) geradezu aufgeopfert und werden dann in den Boden gestampft, als hätten sie etwas Böses getan? Das hat mich dann schon stutzig gemacht. Wenn das so ist, dann kann das, was mir passiert ist, nichts mit mir zu tun haben.

Das war ein bisschen ein Aha-Moment für mich, und da begann ich mich mehr für das Thema zu interessieren. Was ist da eigentlich los? dachte ich. Ist denn jeder zweite Mensch narzisstisch und nur darauf aus, andere zu quälen, auszunutzen und niederzumachen?

Auch wenn die Zahlen da nicht eindeutig sind, wie Du sagst, gibt es jedenfalls weit mehr Menschen dieser Art, als ich dachte oder mir hätte vorstellen können. Ich kannte den Begriff „narzisstisch gestört“ noch nicht einmal, bis ich einer Therapeutin (nicht Dir, einer Kollegin von Dir) eine Geschichte mit einer Teilnehmerin aus meinen EDV-Kursen erzählte, die den ganzen Kurs fast unmöglich gemacht hätte mit ihrem Verhalten. Ich war die Kursleiterin und habe natürlich versucht, ihr so weit wie möglich Hilfestellung zu geben, sie zu verstehen und Methoden zu finden, sie so zu unterrichten, dass sie danach Excel bedienen konnte (darum ging es in dem Kurs), aber nichts half. Sie wurde nur immer aggressiver und wies alles zurück, unterstellte sämtlichen anderen Teilnehmerinnen des Kurses, sie würden sie absichtlich sabotieren, ignorieren und schlecht behandeln. Ich als Kursleiterin natürlich sowieso.

Glücklicherweise hat sie dann den Kurs auf eigenen Wunsch verlassen, weil sie ja meinte, alle wären gegen sie, und wir haben aufgeatmet und konnten den Kurs dann ganz normal weiterführen, wie er gedacht war. Aber obwohl sie die meiste Unterstützung erhalten hatte und alle auf sie Rücksicht genommen und ihr geholfen hatten, hat sie sich dann bei der Leiterin des IT-Unterrichtsinstituts, in dem der Kurs stattfand, beschwert und behauptet, alle hätten sie sabotiert.

Ich war wirklich ratlos. Weil ich genau wusste, dass das Gegenteil der Fall gewesen war. Sie hatte alle anderen am Lernen gehindert, hatte immer alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen und mehr Zeit für sich bekommen, als es eigentlich den anderen gegenüber gerecht war. Trotzdem hatten die meisten versucht, darüber hinwegzusehen und weiter die Übungen zu machen, die ich für sie vorbereitet hatte.

Erst als ich das meiner Bekannten, der Psychotherapeutin, erzählte, sagte die sofort: „Da musst du dich nicht wundern. Diese Teilnehmerin ist narzisstisch gestört.“ Ich habe sie angesehen wie vom Donner gerührt, denn ich kannte den Ausdruck gar nicht.

Das war lange, bevor ich den Verlag gegründet habe, und das war sozusagen meine erste Begegnung mit dem Begriff in der realen Welt. Davor hatte ich nur von der Legende von Narziss gehört, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt, und darüber gelacht. Wie kann man sich in sein eigenes Spiegelbild verlieben? Das ist doch verrückt.

Aber spätestens, als ich dann diese Teilnehmerin in meinem Kurs hatte, fand ich das nicht mehr so verrückt. Trotzdem unerklärlich. Da musstest erst Du kommen, Kristin, und mir das erklären.

Die schlimmen Auswirkungen, davon hatte ich allerdings bis dahin auch keine Ahnung. Ich dachte, das sind Ausnahmen. Ich habe viele Kurse gegeben, über Jahre, und nur ein einziges Mal war so eine Frau in meinem Kurs. Es gab Leute, die netter waren oder weniger nett, das ist völlig normal, das stört den Kursablauf nicht, und jeder Mensch, einschließlich mir selbst, hat ja so seine Probleme, die er mit sich herumträgt und manchmal auch nach außen trägt, selbst wenn er das nicht will. Aber dass Narzissmus so ein Massenphänomen ist und dass so viele ausgesprochen sympathische Leute darunter leiden müssen, das war mir nicht bewusst.