14

»Es war ein seltsames Gefühl, das Lisa befiel, als sie dieses Büro betrat, dann weiterging zur Verbindungstür und Nathalie sah.

Sicherlich hatte auch sie manchmal etwas in Büros zu tun. Das Wildest Dreams hatte ein Büro. Und es gab andere Büros. Ihre Mutter und ihr Vater arbeiteten beide in einem. Dennoch war dieses Büro etwas in gewisser Art Neues, anderes.

Und das nicht nur, weil sie noch nie in einem Steuerberaterbüro gewesen war. Es war die Steuerberaterin selbst, die ihr dieses Gefühl vermittelte.

Steuerberaterin! Du lieber Himmel! Wer wurde denn schon Steuerberaterin? Das mussten die trockensten Menschen sein, die es gab. Sich immer nur mit Geld beschäftigen, mit Papieren, mit Gesetzen, mit dem Finanzamt. Wo genauso trockene Menschen saßen, die nicht wussten, was das Leben eigentlich ausmachte.

Das Leben musste man spüren. Es musste durch den eigenen Körper pulsieren wie ein ständiger Schlag, der einen vorantrieb. Es hielt einen in Bewegung. Den ganzen Tag hinter einem Schreibtisch zu sitzen hätte Lisa sich nie vorstellen können.

Im Grunde genommen wäre so ein Büro etwas gewesen, das sie möglichst schnell wieder verlassen wollte. Wieder frische Luft atmen, nicht diesen Papiergeruch, der einen Hustenreiz auslöste.

Und doch stand sie hier und suchte nach einer Möglichkeit, länger bleiben zu können. Was war das nur mit dieser Frau? Warum war sie, Lisa, überhaupt hergekommen?

Normalerweise stellte sie sich solche Fragen nicht. Aber Nathalies Ausstrahlung, Nathalies Leben war so fremdartig, dass die Frage sich auf einmal aufdrängte.

Lisa beschäftigte sich nicht gern mit Dingen, die längere Überlegung erforderten. Sie war eher ein Mensch, der die Dinge in die Hand nahm. Handeln lag ihr näher als Sinnieren.

Und doch faszinierte Nathalie sie, für die vermutlich das Gegenteil galt.

Aber was nützte Faszination, wenn sie nicht gegenseitig war? Von Lisa waren viele Menschen fasziniert, vor allem, wenn sie auf der Bühne stand, aber trotzdem hatte das in all den zehn Jahren, die sie jetzt professionell tanzte, zu keiner längeren Beziehung geführt, weil sie selbst nicht von den Menschen fasziniert war, die von ihr fasziniert waren.

Die Leute verwechselten die Kunstfigur, die sie auf der Bühne sahen, mit der Person. Sie machten sich ein Bild, das absolut nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte, und dann erwarteten sie, dass Lisa dem Bild, das sie sich gemacht hatten, entsprach. Verliebten sich vielleicht sogar in dieses Bild, von dem sie glaubten, dass es Lisa wäre.

Ein Anspruch, den sie natürlich nicht erfüllen konnte. Und dann waren sie enttäuscht. Machten ihr Vorwürfe, dass sie nicht das war, was sie sich in ihrer Fantasie ausgemalt hatten. Dass sie ein ganz normaler Mensch war.

Im Allgemeinen prallte das an Lisa ab. Aber in letzter Zeit hatte sie gemerkt, dass es ihr mehr ausmachte als früher. Sie war ein zu ausgeglichener Charakter, als dass es ihr tatsächlich etwas hätte ausmachen können, aber es war da. Obwohl sie es meistens schnell wieder vergaß, war es doch da.

Nathalies Ablehnung von Anfang an war da ganz etwas anderes. Sie hatte sich auch ein Bild von Lisa gemacht aufgrund ihrer Bühnenverkleidung, aber dieses Bild war kein Ideal für sie, sondern es gefiel ihr nicht. Sie lehnte es ab.

Auch das hatte Lisa durchaus schon erlebt, wenn auch selten, aber die Leute, die so waren, interessierten sie nicht. Es waren meistens Menschen, die allein durch ihre Art abstießen. Die in ihrer Persönlichkeit nichts Anziehendes hatten.

Selbstverliebte Papageien, die nur nachplapperten, was andere ihnen vorplapperten. Oder Leute, die so unzufrieden mit ihrem Leben waren, dass sie diese Unzufriedenheit an Menschen auslassen mussten, von denen sie nichts verstanden und auch nichts verstehen wollten.

Das konnte man von Nathalie nicht behaupten.

Ihre Blicke hatten das Äußere, das sie irritiert hatte, durchdringen wollen. Sie hatte die Verpackung nicht für den Inhalt genommen oder damit verwechselt.

Vielleicht war es das, was sie für Lisa interessant gemacht hatte. Doch offenbar war es diesmal genau umgekehrt wie sonst immer. Sie war von Nathalie fasziniert, Nathalie aber nicht von ihr.

Eine Situation, die äußerst selten eintrat – war sie je schon einmal eingetreten? – und für die sie kein Muster hatte.

Darüber musste sie erst einmal nachdenken. Auch wenn ihr das nicht lag. Wie merkwürdig, dass sie es überhaupt in Erwägung zog . . .

»Ich will mich nicht aufdrängen.« Ihr freundliches Lächeln zeigte nichts von ihrer Verwirrung, als sie es Nathalie schenkte. »Ich wollte mich wie gesagt nur nach dem Vogel erkundigen.« Mit ihrem auch außerhalb der Bühne schwingenden Gang, weil ihr Körper so gut trainiert war, dass er niemals am Boden haftete, sondern sich gleich wieder elastisch davon abhob, begab sie sich zur Tür. »Eine Steuerberaterin brauche ich wirklich nicht. Leider.« Bedauernd verzog sie das Gesicht und merkte, dass dieses Bedauern echt war.

Noch mehr verwirrt lächelte sie Nathalie ganz automatisch an, um diese Verwirrung zu kaschieren, und verließ ihr Büro.

15

»Eine neue Klientin?« Frau Kleinschmidt hatte im selben Moment das Vorzimmer betreten, als Lisa es verließ. Einen leicht verwunderten Gesichtsausdruck hatte sie bis in Nathalies Büro hineingetragen.

»Wie? Nein.« Kopfschüttelnd setzte Nathalie sich wieder an ihren Schreibtisch. »Sie hat sich nur . . .«, sie räusperte sich, »nach dem Vogel erkundigt.«

»Nach dem Vogel?« Frau Kleinschmidts verwunderter Gesichtsausdruck wanderte zum Käfig. »Gehört er ihr?«

»Ein Wildvogel?« Beinah tadelnd hob Nathalie die Augenbrauen. »Der gehört wohl niemandem.«

»Kann man nie wissen.« Schulterzuckend drehte Frau Kleinschmidt sich halb wieder zur Tür. »Die Leute haben die komischsten Ideen.«

»Das . . .«, murmelte Nathalie vor sich hin, »kann man so sagen«, als Frau Kleinschmidt endgültig in ihr Vorzimmer zurückkehrte.

Ja, das konnte man wirklich so sagen. Von ihren Klienten war Nathalie ja schon so einiges gewöhnt, aber Lisa schlug sie alle. Sie war einfach . . . Was auch immer.

Verärgert wandte Nathalie sich wieder ihren Akten zu, um die Arbeit fortzusetzen, aus der Lisa sie herausgerissen hatte.

Aber sie konnte sich nicht mehr richtig darauf konzentrieren. Lisa schien immer wieder im Zimmer zu stehen und sie anzulächeln.

Dieses Lächeln . . . Verdammt! Beinah hätte sie mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Es war etwas an Lisas Lächeln, das sie nicht mehr losließ. Und allein die Vorstellung hasste sie.

Sie knirschte mit den Zähnen. Einer von diesen . . . Nachtfaltern. Das konnte ja wohl nicht wahr sein!

Noch nie hatte sie sich für das Nachtleben interessiert, das sie umrauschte. Obwohl sie genau dort ihr Büro hatte, wo andere ihr Vergnügen suchten, hatte sie sich noch nie darum gekümmert.

Ihr Büro lag in einem alten Gebäude, das an frühere Zeiten erinnerte. Es war in keinem sehr guten Zustand gewesen, als sie es mietete, und deshalb lag die Miete weit unter dem üblichen Satz. Das war der Hauptgrund gewesen, warum sie sich dafür entschieden hatte. Und dass es zentral lag, für potenzielle Klienten gut zu erreichen.

Angela Danz: Rosen für Nathalie

1 »Nein, es tut mir leid. Das können Sie nicht als Werbungskosten absetzen.« Nathalie seufzte...
Weil sie selbst keinen Mann fand, jedenfalls schien das in ihrem Alter und mit ihrer Ausstrahlung...
Zwar hatte Nathalie keine Ahnung von Tieren, aber das legte wohl die Vermutung nahe, dass er sich...
Geld spielte in ihrem Alltag keine große Rolle. Sie hatte gerade mal genug zum Leben, aber das...
»Dem können wohl selbst wir uns nicht entziehen.« Unbekümmert lachte Lisa ihn an. »Ich denke gar...
Das brachte manchmal auch unerfreuliche Reaktionen mit sich, aber die ignorierte sie. Es betraf...
Glücklich war sowieso der falsche Ausdruck. Wer konnte schon sagen, was Glück war, wie sich das...
»Muss das sein?« Immer noch war Nathalie erbost und musterte dieses komische Zwitterwesen von oben...
11 »Oh, du hast einen Vogel.« Nathalie dachte, sie hätte sich verhört und drehte sich erbost um....
Aber nein, diese Frau hatte nicht den Eindruck gemacht, als wäre sie brutal. Und warum hatte sie...
14 »Es war ein seltsames Gefühl, das Lisa befiel, als sie dieses Büro betrat, dann weiterging zur...
Mittlerweile hatte sie einiges daran machen lassen, sodass es repräsentativ genug war für ihren...