»Davon habe ich gelesen.« Eleni umklammerte den Haltegriff über ihrem Sitz. Die griechische Fahrweise hatte sie definitiv nicht vermisst. »Aber das Hotel bringt doch auch was Gutes. Viele neue Arbeitsplätze. Vielleicht entstehen ein paar neue Geschäfte, eine bessere Infrastruktur.«
Stavros lachte höhnisch. »Durch ein All-inclusive-Hotel? Da verlässt doch niemand die Anlage. Und was machen die Insulaner im Winter, wenn das Hotel keine Saison hat? Dann bleibt wieder nur das Arbeiten in den Olivenhainen und beten, dass man über die Runden kommt. Und die ganze Kohle schaufeln sich die Konzerne in den Rachen.«
Eleni schloss kurz die Augen. Tief im Inneren wusste sie, dass Stavros nicht unrecht hatte. Sie liebte ihren Job, sie liebte es, Gastgeberin zu sein, Gäste glücklich zu machen. Aber sie wusste natürlich auch um die Schattenseiten des Tourismus.
»Aber jetzt lass dir nicht von mir deinen ersten Tag auf unserer wunderschönen Insel vermiesen.« Stavros griff in die Ablage der Fahrertür und zog eine Bäckertüte hervor. »Ganz frische Kalitsounia.«
Eleni öffnete die Tüte. Ein verlockender Duft stieg ihr in die Nase. Sie fischte eines der mit süßem Frischkäse gefüllten Mürbeteiggebäcke heraus. »In Deutschland bekommt man einfach nicht die richtigen Zutaten dafür. All meine Versuche, Kalitsounia selbst zu backen, sind gescheitert.« Sie lachte leicht, brach ein kleines Stückchen ab und ließ es sich regelrecht auf der Zunge zergehen. »Wirklich lecker.«
»Vom besten Konditor der Gegend.«
»Lass mich raten: ein Cousin von dir? Oder vielleicht ein Schwager?« Eleni grinste.
Stavros lachte laut auf. »Woher weißt du das nur?« Er bog von der Hauptstraße auf eine deutlich engere Straße ab, die durch die Berge in den Süden zu Elenis Hotel führte. Auch wenn sie schon eine Stunde im Taxi saß, so würde die Fahrt etwa noch mal so lange dauern.
Kleine Bergdörfer säumten ihren Weg. Und Olivenbäume, so weit das Auge reichte.
»Hier hat sich die letzten zwanzig Jahre nichts geändert.« Eines aufkommenden Glücksgefühls konnte Eleni sich nicht erwehren.
»Ja, hier oben gibt es das ursprüngliche Kreta noch«, stimmte Stavros ihr zu. »Man könnte fast glauben, die Uhren sind stehengeblieben. Aber warte noch ein paar Kilometer, dann werden die Touristenbusse das landschaftliche Bild prägen.«
Nach fast zwei Stunden war es endlich so weit: Vor ihnen lag die Bucht von Triopetra. Aber noch war es ein ganzes Stück von der Anhöhe hinunter zum Meer.
Der Ausblick war fantastisch. Vor ihr das tiefe Blau des Meeres, am Horizont rechts die kleine Insel Gavdos, der südlichste Punkt Europas, links die zwei kleinen Inseln Paximadia, benannt nach einem traditionellen trockenen Brot, dem die Felsen ähnlich sehen sollen.
Das war also ihr neuer Arbeitsplatz. »Kannst du kurz anhalten?«
Stavros trat auf die Bremse und lenkte den Wagen auf einen Schotterplatz neben der Straße. »Von hier aus kannst du auch das Wahrzeichen von Triopetra sehen. Drei plattenförmig geschichtete Felsen, die ins Meer reichen.«
Eleni hatte die beeindruckende Gesteinsformation natürlich längst entdeckt. Früher war sie mehrmals dort und immer wieder aufs Neue fasziniert gewesen.
Die hoch am Horizont stehende Sonne spiegelte sich goldglänzend in der Oberfläche des Wassers. Der Wind zerzauste Elenis dunkle Locken, nur mühsam konnte sie sie mit ihren Händen bändigen.
Gleich war es so weit. Ihr neues Leben begann. Sie würde ein für alle Mal mit der Vergangenheit abschließen müssen.
Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus.
2
Eleni steckte die Zimmerkarte in die Tasche ihres Blazers. Frisch geduscht war sie bereit, ihre neuen Mitarbeiter und die Hotelanlage kennenzulernen.
Ihr Koffer lag geöffnet und dessen Inhalt zerwühlt auf dem Bett, sie hatte nur das Nötigste herausgesucht, um sich präsentabel herzurichten und ihr Outfit zu wechseln.
Sie strich die schwarze Hose glatt. Lieber wäre sie bei der bequemen Stoffhose vom Flug geblieben, aber für den ersten Eindruck musste es definitiv etwas Passenderes sein.
Gerade als sie die Türklinke herunterdrücken wollte, ließ ein Geräusch auf der Terrasse Eleni innehalten. Was war das? Es klang wie ein Miauen. Eigentlich hatte Eleni keine Zeit mehr, sie war in fünf Minuten mit Giorgos Stammatakis, dem Assistent General Manager des Hotels und somit ihrem direkten Stellvertreter, verabredet. Noch mal ein beinahe elendig klingendes Miauen. Eleni ließ den Türgriff los. Sie musste nachsehen.
Sie zog den Vorhang zur Seite. Davor saß ein schwarz-weißes Fellbündel, das sie mit großen Kulleraugen ansah. Vorsichtig schob Eleni die Terrassentür auf und beugte sich zu dem kleinen Wesen.
»Wer bist du denn?« Sie hielt ihre Hand behutsam in die Richtung der Katzennase. Die Kleine begann sogleich, daran zu schnuppern und ließ sich dann bereitwillig streicheln. Als Eleni durch das Fell fuhr, bemerkte sie, wie abgemagert die Katze war.
»Komm rein.« Eleni gab den Zugang zu ihrem Appartement frei. Sofort schlüpfte die Katze durch den Spalt und rollte sich auf dem Teppich ein.
Eleni hatte beschlossen, in der Hotelanlage zu wohnen. Das war deutlich einfacher, als eine Wohnung in der Umgebung zu suchen. Und wahrscheinlich würde sie ohnehin so viel arbeiten müssen, dass sie kaum Zeit zu Hause verbringen würde. Daher hatte sie eines der Appartements bezogen, die aus einem Schlafzimmer, einem kleinen Wohnzimmer und einer Küchenzeile bestanden.
»Hast du Durst?«, fragte Eleni die Katze, wohlwissend, dass sie keine Antwort erwarten konnte.
In dem Küchenschrank suchte sie eine Schüssel, füllte sie mit Wasser und stellte sie vor das Kätzchen. Umgehend machte sich das Tier über das Wasser her, als hätte es seit Ewigkeiten nichts mehr getrunken.
Eleni kniete sich neben das kleine Wesen. Sie wusste, dass es unzählige streunende Katzen auf Kreta gab und dass die Einheimischen sie eher als Plage denn als Haustiere sahen. Das Verhältnis zu Katzen und auch Hunden war ein ganz anderes, als sie es aus Deutschland gewohnt war. Aber wie konnte man ein so süßes Tier einfach seinem Schicksal überlassen? Hunger, Durst, Gefahren durch die Autos. Eleni wollte gar nicht daran denken.
»Ich würde dir auch gern etwas zu Essen anbieten, aber außer ein paar übriggebliebenen Keksen habe ich nichts hier.« Eleni kraulte das Kätzchen unter dem Kinn, was mit einem wohligen Schnurren erwidert wurde. »Aber ich werde dir ganz bald etwas besorgen. Versprochen.« Als hätte die Katze sie verstanden, sah sie Eleni mit ihren grünen Augen an. »Ich glaube, ich nenne dich Gataki, für Kätzchen.« Sie lächelte und strubbelte der Kleinen durchs Fell. »Ich muss jetzt leider ganz dringend los. Ich bin schon etwas spät dran.«
Sie ließ die Terrassentür einen Spaltbreit offen, damit Gataki wieder hinauskonnte, wenn sie wollte. Eleni hoffte, dass das Kätzchen in ihrem Zimmer kein Chaos anrichten würde. Ansonsten lag ihr Appartement so weit abseits, dass hoffentlich niemand unerlaubt das Zimmer betreten würde.
Als sie in der Hotellobby ankam, wartete dort ein großgewachsener muskulöser Mann mit dunklen Haaren und Dreitagebart, der kein besseres Klischee eines Griechen hätte abgeben können.
Eleni straffte die Schultern und ging auf den Mann zu. »Sie müssen Giorgos Stammatakis sein«, sprach sie ihn auf Griechisch an. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
Er nickte und ergriff überrumpelt ihre Hand.
»Ich bin Eleni Mavridakis. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Ah.« Er setzte ein gekünstelt wirkendes Lächeln auf. »Und ich dachte, die Deutschen wären immer so pünktlich.«