1

»Hast du alles?«

Während Mariana über ihr Bett gebeugt dastand, um ihren Koffer zu packen, wurde sie von hinten von einer Stimme überfallen.

»Hab ich.« Lächelnd richtete sie sich auf und drehte sich um. »Hast du Angst, du musst mir ein dickes Paket nachschicken?«

»Das täte ich doch unheimlich gern.« Marianas Mitbewohnerin Shirley, mit der sie sich in den letzten vier Jahren ein Zimmer im Studentenwohnheim des Pomona-Colleges geteilt hatte, grinste sie an. »Und ich komme dich sowieso bestimmt bald besuchen, da im kalten Boston.« Sie schüttelte sich. »Dann kann ich alles, was du vergessen hast, mitbringen.«

Mariana lachte. »Soweit ich mich erinnere, bist du die Vergessliche von uns beiden. Deshalb nimmst du das wohl auch von allen anderen an.«

»Ja, ja, Frau Doktor.« Shirley rollte die Augen. »Du bist so perfekt, dass keiner an dich rankommt.«

»Beides falsch.« Mit einer liebevollen Geste umarmte Mariana sie. »Ich bin noch keine Frau Doktor, und perfekt bin ich schon gar nicht. Stell mich nicht immer so auf ein Podest.«

»Ich werde dich vermissen.« Shirley drückte sie. »Nach vier Jahren habe ich mich echt an dich gewöhnt.«

»Während es am Anfang schwierig war.« Hell lachte Mariana auf und strahlte Shirley mit ihren leuchtend graugrünen Augen an, die einen wunderbaren Kontrast zu ihrem kastanienbraunen Haar bildeten. »Wir beide im selben Zimmer . . .«

»Nur weil du so furchtbar ordentlich bist. Etwas Chaos würde dir guttun.« Herausfordernd blinzelte Shirley sie an.

»Dein Chaos, meinst du?« Mit einem lächelnden Kopfschütteln wandte Mariana sich von ihr ab und wieder ihrem Bett und ihrem Koffer zu. »Das ist das Einzige, was ich nicht vermissen werde.«

Diese vier Jahre waren erst der Anfang ihrer Ausbildung zur Ärztin gewesen. Sie wollte Menschen helfen, deshalb hatte sie sich für diesen Weg entschieden, aber er war lang und anspruchsvoll. Die Medical School, das Medizinstudium an einer Universität, nach dessen Abschluss das M.D., Doktor der Medizin, am Ende ihres Namens stehen würde, konnte man erst absolvieren, wenn man zuvor schon ein vierjähriges Studium in einem anderen Fach abgeschlossen und darin seinen Bachelor erworben hatte.

Diesen Bachelor hatte sie nun, aber jetzt ging es erst richtig los. Noch einmal vier Jahre Medical School, dann weitere Jahre als Assistenzärztin in einem Krankenhaus, und danach erst konnte sie sich als Ärztin bezeichnen und selbstständig arbeiten. Eine eventuelle Facharztausbildung, noch ein paar Jahre, musste sie zu diesem Zeitpunkt noch anhängen, wenn sie das wollte.

Und das wollte sie. Sie wollte alles lernen, was sie nur lernen konnte, um anderen Menschen zu helfen.

»Dass du dir das antun willst . . .« Shirley ließ sich auf ihr eigenes Bett fallen und sah Mariana beim Packen zu. »Ich bin froh, dass ich jetzt endlich fertig bin und nie mehr zu irgendwelchen Vorlesungen muss. Wenn meine Familie nicht darauf bestanden hätte, hätte ich noch nicht mal das hier gemacht.«

»Ich weiß.« Mariana wandte sich kurz zu ihr um und schmunzelte. »Aber schon als kleines Kind habe ich davon geträumt, Ärztin zu werden. Ich wollte nie etwas anderes.«

»Tja, jedem, wie es ihm gefällt.« Shirley zuckte die Schultern. »Ich freue mich jetzt auf die erste Party nach langer Zeit, die nicht auf dem Campus stattfindet.« Sie grinste und strampelte auf dem Rücken liegend kindisch mit den Beinen, als könnte sie es gar nicht erwarten.

»Und auf deinen Verlobten, nehme ich an?«, fügte Mariana mit leicht gehobenen Augenbrauen hinzu.

»Na ja . . .« Shirley runzelte die Stirn. »Er ist ganz in Ordnung.«

Mariana seufzte. »Warum sagst du es ihnen nicht?«

Gleichgültig winkte Shirley ab. »Ach, du weißt doch, wie es ist. Familie . . . Sie denken, er ist der perfekte Ehemann für mich. Unsere Familien kennen sich schon ewig. Wir stammen aus denselben Kreisen . . .« Sie atmete tief durch. »Und er ist ja auch ein netter Kerl. Mehr wie ein Bruder. Aber sooo langweilig!« Sie illustrierte das, indem sie ausgiebig gähnte.

»Ich fand ihn sehr nett, wenn er dich hier besucht hat«, meinte Mariana, während sie eine Bluse faltete.

»Ja, genau.« Mit einem Satz sprang Shirley auf. »Nett. Das ist er. Nett. Aber mehr eben auch nicht. Was ich mir wünsche . . .«, sie seufzte, »ist Aufregung und Abenteuer. Ein Mann, der mich von den Füßen reißt, wenn ich ihn nur ansehe, wenn ich nur an ihn denke.« Sie seufzte wieder. »Wie ein Pirat, der mit geblähten Segeln davonrauscht. Mit mir am Bug neben sich. Meine Haare fliegen im Wind –«

Mariana lachte. »Entweder hast du zu viele historische Romane gelesen oder zu viele alte Filme gesehen.«

»Ist deine Familie denn damit einverstanden, dass du jetzt noch Jahre an Ausbildung ans College dranhängst und nicht heiratest?«, fragte Shirley mit schiefgelegtem Kopf. »Sie haben doch sicher auch längst jemanden für dich ausgesucht.«

Mariana verzog das Gesicht. »Das hätten sie gern. Aber ich habe mich bisher noch mit keinem einverstanden erklärt.«

Shirley lachte. »Du bist da einfach viel zurückhaltender als ich. Hast du denn gar keine Lust auf . . . hm . . . gewisse Dinge?«

»Dazu muss man nicht verheiratet sein«, sagte Mariana.

»Ja, klar, ich bin auch keine Jungfrau mehr.« Grinsend stolzierte Shirley durchs Zimmer. »Aber trotzdem ist es anders, wenn man verheiratet ist.«

»Nur weil er dein Ehemann ist?«, entgegnete Mariana zweifelnd.

»Wer hat denn gesagt, dass er der Einzige sein muss, für diese . . . gewissen Stunden?« Mit einem kecken Blinzeln sah Shirley sie an.

Für sie schien alles schon geregelt zu sein. Von der Ehe bis zum Ehebruch. Bevor sie überhaupt verheiratet war. Was nicht passte, wurde eben passend gemacht.

»Ich will erst meine Ausbildung abschließen.« Mariana wusste genauso, was sie wollte, aber in völlig anderer Hinsicht. »Das hat Vorrang. Über alles andere kann ich später nachdenken.«

Mit einem entschiedenen Gesichtsausdruck klappte sie ihren Koffer zusammen, und die Schlösser schnappten mit einem endgültigen Geräusch zu.

2

»Bist du da?« Eine Frau in mittleren Jahren, die so respektabel aussah, dass man immer das Gefühl hatte, man müsste sich vor ihr verneigen, steckte den Kopf zur Tür herein und sah Robyn an, die hinter ihrem Schreibtisch saß.

»Bin ich?« Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Robyn zurück.

»Es ist Mrs. Dilling«, erläuterte Marcia, ihre Sekretärin.

»Na dann . . .« Robyn lächelte und stand auf.

Marcia nickte und drehte sich um, hielt einladend die Tür auf. »Bitte, Mrs. Dilling.«

»Ms. Reardon!« Eine Frau kam hereingerauscht, der man ansah, dass sie vermutlich noch nie hinter einem Schreibtisch gesessen hatte. Jedenfalls nicht, um zu arbeiten.

»Mrs. Dilling.« Robyn kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und hielt ihr die Hand hin. »Wie schön, Sie zu sehen.«

»Ich musste Sie sehen!« Sybil Dilling ließ ihre Hand nur hoheitsvoll in die von Robyn fallen und sie dann dort liegen, als erwartete sie, dass Robyn sie küssen würde.

Fast hätte Robyn geschmunzelt, aber sie unterdrückte es, weil sie wusste, dass Sybil Dilling nicht den entferntesten Sinn für Humor hatte. Deshalb legte sie nur ihre zweite Hand auf die von Mrs. Dilling und sah ihr tief in die Augen. »Was ist denn so dringend?«

Sybil Dilling rauschte weiter auf einen Sessel in der Ecke des Büros zu und ließ sich hineinfallen. »Sie müssen mich retten!«

»Aber immer gern.« Jetzt tatsächlich ein wenig schmunzelnd, weil Sybil es nicht sehen konnte, ging Robyn zu ihr und ließ sich in dem Sessel ihr gegenüber nieder. »Etwas zu trinken? Kaffee? Oder einen Sherry?«

Bevor Sibyl überhaupt antworten konnte, öffnete sich die Tür und Marcia kam mit einem Tablett herein. Sie hatte alle Wünsche von Mrs. Dilling schon vorausgesehen und sowohl Kaffee, Gin Tonic als auch Sherry auf dem Tablett versammelt, ebenso einen Whiskey. Der war aber eher für Robyn.

Kay Rivers: Diebe mit Liebe

1 »Hast du alles?« Während Mariana über ihr Bett gebeugt dastand, um ihren Koffer zu packen, wurde...
Sie stellte das Tablett auf dem niedrigen Tisch zwischen den Sesseln ab und verteilte die Sachen...
Dass sie ihre Mutter überhaupt dazu gebracht hatte, war schon fast so eine Art Wunder. Sie hatte...
Lachend schüttelte Mariana den Kopf. »In diesem Fall nicht. Ich habe mich in Pomona hauptsächlich...
»Noch mehr als bei Mrs. Dilling kann ich mir fast nicht vorstellen«, sagte Robyn. »Da sahen sie...
»Ist es nicht großartig?«, fragte sie jetzt, während sie Mariana ansah. Ihre Augen strahlten schon...
Fast wäre Mariana in Ohnmacht gefallen. Das war wieder typisch ihre Mutter! Ihr kein Wort zu sagen...
War sie jetzt unzivilisiert, weil sie es trotzdem vier Jahre lang getan hatte? fragte Mariana...
Das Ganze dauerte höchstens ein paar Minuten, dann war der Spuk vorbei. Das Licht ging wieder an....
»Aber . . . Aber . . . « Mariana stotterte ein wenig herum. »Das kann doch nicht sein. Hier kommt...
Auch das wäre schlimm für Mariana gewesen, aber sie hätte wenigstens eine Erklärung gehabt. So...
Jackie beispielsweise hätte Mariana natürlich jederzeit in ihrem Schlafzimmer empfangen können....