Dass sie ihre Mutter überhaupt dazu gebracht hatte, war schon fast so eine Art Wunder. Sie hatte gewollt, dass Mariana von Anfang an nach Harvard ging, sich gar nicht von Boston wegbewegte. Was für andere ein Traum war, an der Eliteuni Harvard zu studieren, war für Mariana mehr eine Art Albtraum.

Aber nun musste sie es tun. Ihr PreMed-Studium war abgeschlossen, sie konnte sich nicht mehr drücken.

»Erzähl.« Immer noch aufgeregt strahlte Jackie sie an. »Wie war es in Pomona?«

Lächelnd schüttelte Mariana den Kopf. »Das weißt du doch. Du hast mich sogar dort besucht. Und wir haben regelmäßig telefoniert.«

»Du weißt schon, was ich meine.« Während sie gemeinsam den Karren mit dem Gepäck zu Jacquelines Auto schoben, hakte Jackie sich mit einem Arm in Marianas ein. »Hast du jemanden . . .«, sie klimperte mit den Wimpern, »kennengelernt? Davon hast du nie etwas erzählt.«

»Weil es nichts zu erzählen gab.« An Jackies Wagen angekommen ließ Mariana den Griff des Gepäckkarrens los und aktivierte damit die Bremse. »Machst du mal auf?«

»Du warst vier Jahre da.« Ein Piepen zeigte an, dass Jackie den Wagen geöffnet hatte. »Vier Jahre!« Jacqueline hätte auch sagen können eine Ewigkeit, es hätte genauso geklungen.

»Und?« Mariana schob den ersten Koffer in den Kofferraum.

»Und?«, fragte Jackie entgeistert zurück. »Was heißt denn hier und? Vier Jahre lang kannst du ja wohl nicht allein gewesen sein. Es sind in der Highschool ja schon immer alle um dich herumgeschwirrt.«

Ätzend, dachte Mariana. Denn in Boston hatte jeder gewusst, wer sie war, aus welcher Familie sie stammte. Unter anderem deshalb war sie an der Highschool so beliebt gewesen.

Aber sie war auch ein netter Mensch. Das vergaß sie manchmal. Im kalifornischen Pomona auf der anderen Seite der USA, Tausende von Kilometern entfernt an der Westküste, hatte ihre Bostoner Ostküstenfamilie nur vergleichsweise wenig gezählt. Und sie war dort genauso beliebt gewesen wie zuvor an der Bostoner Highschool.

»Shirley wollte mich fast nicht gehen lassen, falls du das meinst.« Sie schmunzelte ein wenig.

»Shirley war deine Mitbewohnerin!« Jackie warf die Arme in die Luft. »Du weißt ganz genau, dass ich das nicht meine!«

»Ich weiß, was du meinst.« In Marianas Kopf spielten sich ein paar Szenen ab, die sich auf das bezogen, was Jackie meinte. »Aber da war nichts. Nichts Ernstes. Sonst hätte ich dir das erzählt.«

»Vier Jahre lang?« Jackie schmollte ein wenig, als sie sich hinters Steuer setzte. »Da war bestimmt was. Du willst es mir nur nicht erzählen. Bin ich nicht mehr deine beste Freundin?«

»Doch, natürlich.« Liebevoll lächelte Mariana sie an. »Aber ich kann nichts erzählen, wenn da nichts war.«

»Nie im Leben!« Obwohl sie jetzt am Steuer saß und das eigentlich hätte festhalten sollen, da sie über den Parkplatz zum Ausgang fuhr, warf Jackie erneut die Arme in die Luft. »Nicht mal ein One-Night-Stand?«

»Wie war es denn bei dir?« Ganz gezielt beschloss Mariana, den Spieß umzudrehen, um Jacqueline von dem Thema abzubringen, das sie so interessierte. »Wer ist es diese Woche?«

Jackie seufzte. »Derselbe wie vorige. Und wie vor einem Monat. Er ist einfach . . . hinreißend.« Ihre Augen verdrehten sich fast vor Entzücken.

»Soll ich lieber fahren?« Mariana hatte wirklich Bedenken, ob Jackie in diesem Zustand in der Lage war, einen Wagen zu steuern.

»Nein, nein, schon gut.« Tatsächlich griff Jackie nun mit beiden Händen fest zu. »Es hat ja sowieso keinen Sinn. Er hat keinen Penny.«

»Das ist nicht das Wichtigste«, widersprach Mariana.

»Das sagst du.« Schnell warf Jacqueline einen Blick zu ihr. »Weil du so viel hast, dass du dir darum keine Gedanken machen musst.«

»Ich . . .«, entgegnete Mariana betont, »habe gar nichts. Meine Mutter hat das Geld.«

»Spielt keine Rolle«, meinte Jackie schulterzuckend. »Du kannst haben, so viel du willst.«

»Nur unter bestimmten Bedingungen«, widersprach Mariana. »Wenn ich das tue, was meine Mutter von mir verlangt.«

»Ich wünschte, ich hätte noch eine Mutter.« Auf einmal klang Jacquelines Stimme nicht mehr so fröhlich.

»Tut mir leid.« Entschuldigend lächelte Mariana sie an. »Ich hätte das nicht sagen sollen.«

»Doch, doch. Schon gut.« Auch Jacqueline lächelte ihr mit einem kurzen Seitenblick zu. »Du kannst ja nichts dafür, dass –« Mitten im Satz unterbrach sie sich selbst und starrte nur noch auf die Straße.

Es war schon merkwürdig, wie die Dinge auf der Welt verteilt waren, dachte Mariana. Jackie hatte sehr gute Eltern gehabt, sehr liebevolle Eltern, denen wirklich etwas an ihr lag.

Ganz im Gegensatz zu Mariana, die eine Mutter hatte, der höchstens etwas an ihr selbst lag, der einzigartigen (ihrer eigenen Ansicht nach) Amanda Elizabeth Bradlee Fulton, an niemand anderem. Am allerwenigsten an ihrer Tochter. Außer wenn sie sie irgendwo vorführen und mit ihr angeben konnte. Wenn sie genau das tat, was ihre Mutter wollte, und das brave Kind spielte.

Doch wie liebevoll sie auch immer gewesen waren, Jacquelines Eltern waren beide von einem betrunkenen Mistkerl totgefahren worden, der es nicht wert war, dass man sich überhaupt mit ihm beschäftigte.

Ihm war nichts passiert oder nur ein paar Kratzer. Er konnte den Rest seines bedeutungslosen Lebens weiterführen, wahrscheinlich, bis er hundert war. Und dabei vielleicht noch einer Menge anderer Leute Schaden zufügen, die ebenso unschuldig waren wie Jackies Eltern.

Gerecht war die Welt nicht, das konnte man zumindest daraus lernen.

Da Jackies Eltern noch sehr jung gewesen waren, noch nicht einmal vierzig Jahre alt, hatten sie noch nicht mit einem so frühen Tod gerechnet. Vor allem beide gleichzeitig. Deshalb hatten sie Jackie nicht viel hinterlassen.

Ihr Vater war zu jenem Zeitpunkt gerade dabei gewesen, sich eine eigene Firma aufzubauen. In die hatte er alles Geld gesteckt, das die Familie besaß, plus noch ein paar Kredite.

Die Firma war nach seinem Tod den Bach runtergegangen. Das Geld war futsch. Und die Kredite hätte Jackie am Hals gehabt, wenn sie das Erbe angenommen hätte.

Das hatte sie nicht getan, doch dadurch hatte sie auch das Haus verloren, in dem sie ihr ganzes Leben lang gelebt hatte, in dem sie aufgewachsen war. Die Universität konnte sie auch nicht mehr bezahlen. Sie hatte ihr Studium aufgeben müssen und arbeitete jetzt in einer Boutique als schlecht entlohnte Verkäuferin auf Provisionsbasis.

Das winzige Einkommen ermöglichte ihr gerade einmal, die viel zu hohe Miete für ein genauso wie ihre Geldmittel winziges Zimmer in der Stadt zu bezahlen. Danach blieb ihr kaum mehr etwas zum Essen übrig.

Dennoch hatte ihre Familie, die Familie Caron de Beaumarchais, immer zu den angesehensten der Stadt gehört, und das war ihr geblieben. Geld zu haben war in Boston wichtig, aber noch wichtiger war es, einen Namen zu haben.

Damit sie einmal aus diesem muffigen Zimmer herauskam, hatte Mariana ihr ein Ticket nach Pomona geschenkt, sodass Jackie sie besuchen konnte. Das war ihr erster Urlaub seit Jahren gewesen.

Aber es war, wie es war. Marianas Mutter hätte niemals zugelassen, dass sie Jackie regelmäßig unterstützte, obwohl das bei dem Vermögen von Marianas Familie ein Pappenstiel gewesen wäre.

Man sprach nicht über Geld, aber haben musste man es. Das wurde einfach vorausgesetzt. So wurde Jackie weiterhin zu Bällen eingeladen, die sie sich eigentlich gar nicht leisten konnte. Darüber dachte niemand nach.

»Du willst mir also nichts erzählen«, nahm Jackie das Thema wieder auf, das sie am meisten interessierte, und schmunzelte von der Fahrerseite zu Mariana herüber. »Wenn du so ein stilles Wasser bist, steckt meistens etwas dahinter.«

Kay Rivers: Diebe mit Liebe

1 »Hast du alles?« Während Mariana über ihr Bett gebeugt dastand, um ihren Koffer zu packen, wurde...
Sie stellte das Tablett auf dem niedrigen Tisch zwischen den Sesseln ab und verteilte die Sachen...
Dass sie ihre Mutter überhaupt dazu gebracht hatte, war schon fast so eine Art Wunder. Sie hatte...
Lachend schüttelte Mariana den Kopf. »In diesem Fall nicht. Ich habe mich in Pomona hauptsächlich...
»Noch mehr als bei Mrs. Dilling kann ich mir fast nicht vorstellen«, sagte Robyn. »Da sahen sie...
»Ist es nicht großartig?«, fragte sie jetzt, während sie Mariana ansah. Ihre Augen strahlten schon...
Fast wäre Mariana in Ohnmacht gefallen. Das war wieder typisch ihre Mutter! Ihr kein Wort zu sagen...
War sie jetzt unzivilisiert, weil sie es trotzdem vier Jahre lang getan hatte? fragte Mariana...
Das Ganze dauerte höchstens ein paar Minuten, dann war der Spuk vorbei. Das Licht ging wieder an....
»Aber . . . Aber . . . « Mariana stotterte ein wenig herum. »Das kann doch nicht sein. Hier kommt...
Auch das wäre schlimm für Mariana gewesen, aber sie hätte wenigstens eine Erklärung gehabt. So...
Jackie beispielsweise hätte Mariana natürlich jederzeit in ihrem Schlafzimmer empfangen können....