Sie stellte das Tablett auf dem niedrigen Tisch zwischen den Sesseln ab und verteilte die Sachen so, dass die Damen sich selbst bedienen konnten. Dann nahm sie das Tablett wieder an sich. »Brauchen Sie sonst noch etwas?«, fragte sie zuvorkommend.

»Nein, danke«, sagte Robyn und lächelte ihr zu. »Das ist perfekt.«

Marcia nickte und ging zur Tür, verließ das Zimmer.

»Sie ist wirklich perfekt, nicht wahr?«, bemerkte Sibyl, während sie der hinausgehenden Marcia kurz hinterherblickte. »Wo haben Sie sie gefunden? Ich habe noch nie eine Sekretärin wie sie gesehen. Die bei meinem Mann«, sie verzog das Gesicht, »sind höchstens halb so alt.«

»Ich lege Wert auf Erfahrung«, erklärte Robyn gelassen, ließ zischend eine ganze Menge Soda in ihren Whiskey fließen und lehnte sich dann zurück.

»Das ist das richtige Stichwort.« Sibyl schnappte sich den Gin Tonic und nahm gierig einen Schluck, als wäre sie kurz vorm Verdursten. »Erfahrung. Die brauche ich. Ihre Erfahrung für meine Wohltätigkeitsveranstaltung nächste Woche.«

Robyn lächelte leicht verwundert. »Ich dachte, Sie hätten den Auftrag an Smithers vergeben.«

»Habe ich auch.« Sibyl Dilling verzog das Gesicht. »Aber er lässt mich hängen.«

»Eine Woche vor der Veranstaltung?« Befremdet hob Robyn die Augenbrauen.

»Ja. Ist das nicht ungeheuerlich?« Es war klar ersichtlich, dass das für Sibyl Dilling an Majestätsbeleidigung grenzte. Wobei Mrs. Dilling die Majestät war. »Er hatte die älteren Rechte, verstehen Sie? Sie sind ja noch nicht so lange in der Stadt –«

In Boston gehörte man erst dazu, wenn man hier geboren war und möglichst auch schon viele Generationen von Vorfahren hier begraben hatte. Neu Zugezogene wurden fast wie Aussätzige behandelt.

»Aber selbstverständlich verstehe ich das.« Verbindlich beugte Robyn sich vor. »Wie kann ich helfen?«

»Mrs. Wynton hat so von Ihnen geschwärmt«, setzte Sibyl an. »Wie Sie das Dinner zu Ehren des Richters organisiert haben . . .«

»Es war mir eine Ehre.« Robyn verbeugte sich leicht und versteckte ihr amüsiertes Lächeln dann hinter ihrem Whiskeyglas.

Wortspiele wie überhaupt Anspielungen jeglicher Art verstand Mrs. Dilling im Allgemeinen nicht. Sie war nicht wegen ihres Verstandes geheiratet worden, sondern wegen ihres Geldes.

Seit sie vor einem halben Jahr nach Boston gekommen war, hatte Robyn viele Veranstaltungen organisiert, und auf einer davon hatte sie Mrs. Dilling getroffen.

Im Gegensatz zu ihrem heutigen Verhalten hatte sie Robyn damals ignoriert und von oben herab behandelt. Sie betrachtete Leute, die Veranstaltungen organisierten, aber nicht zur obersten Gesellschaftsschicht gehörten, als Dienstboten.

Heute wollte sie etwas von Robyn, und deshalb legte sie eine andere Platte auf. Möglicherweise hatte sie das schon morgen wieder vergessen. Oder spätestens nach der Veranstaltung nächste Woche. Oder wenn die Rechnung fällig wurde.

Aber das interessierte Robyn nicht. Sie wusste, wie sie Leute wie Mrs. Dilling nehmen musste. Und wenn sie sie brauchten, strichen sie ihr um den Bart, als hätte sie einen.

Das war alles, worauf es ankam. Dass Robyns Name in den Kreisen genannt wurde, die hier in der Stadt das Sagen hatten. Dadurch bekam sie die Aufträge, auf die sie aus war.

»Sie müssen mich retten!«, wiederholte Sibyl jetzt ihren Ausruf und leerte ihr Gin-Tonic-Glas, als wäre es Wasser. »Sonst bricht alles zusammen!«

»Das wird es nicht«, versicherte Robyn ihr auf die ihr eigene überzeugende Art. »Sie wollen, dass ich mich darum kümmere?«

»Würden Sie das für mich tun?« Sibyl griff nach dem Kaffee, der vor ihr stand, nahm einen Schluck, entschied sich dann jedoch für den Sherry. Wenn sie die Wahl hatte, waren ihr alkoholische Getränke immer lieber als nicht-alkoholische. »Ich wäre Ihnen ewig dankbar!«

Damen der Gesellschaft wie Sibyl Dilling hatten nie ein Problem damit zu lügen. Es war ihnen schon in den Genen ihrer reichen Vorfahren mitgeliefert worden, die ihr Geld oft nicht mit besonders ehrbaren Unternehmungen verdient hatten.

Dankbarkeit gehörte nicht zu ihren hervorstechendsten Eigenschaften. Sobald sie bekommen hatten, was sie wollten, vergaßen sie sofort, wer dafür verantwortlich war, und rechneten jeden Erfolg nur sich selbst an.

Misserfolge schoben sie gern anderen zu, ob sie dafür verantwortlich waren oder nicht. Auf jeden Fall war es für sie wichtig, selbst immer gut dazustehen.

»Wie könnte ich Sie im Stich lassen?« Robyn stellte ihr Glas zurück auf den Tisch und breitete leicht die Arme aus. »Verfügen Sie über mich.«

So etwas hörte Sibyl immer gern. Ein zufriedenes Lächeln überzog ihr Gesicht. »Dann kann ich alles einfach Ihnen überlassen?«

»Mit Vergnügen.« Diesmal hatte eher Robyn eine hoheitsvolle Attitüde, als sie zustimmend den Kopf neigte. »Verlassen Sie sich ganz auf mich.«

»Sie sind meine Lebensretterin!« Sibyl sprang auf. »Jetzt muss ich aber weiter. Mein Friseurtermin wartet schon. Und dann die Schneiderin.« Abschätzig verzog sie das Gesicht. »Sie ist so unfähig. Das Kleid für nächste Woche ist immer noch nicht fertig.«

Vermutlich lag das nicht an der Schneiderin, sondern an Mrs. Dilling, aber solche Aussagen kommentierte Robyn nie. Das brachte Menschen wie Sibyl Dilling nur durcheinander, und dann reagierten sie unberechenbar.

Erneut nahm Robyn Sibyls Hand in ihre beiden, als Sibyl sie ihr reichte. »Machen Sie sich keine Sorgen«, versicherte sie ihr mit einer Stimme, die nichts als warme Anteilnahme verriet, egal was sie innerlich dachte. »Es wird alles gutgehen nächsten Donnerstag.«

»Ich verlasse mich auf Sie.« Sibyl ging zur Tür.

Und wehe, ich lasse dich im Stich wie Smithers, dachte Robyn. Dann kann ich mir gleich einen Sarg kaufen. Diese Überlegungen behielt sie jedoch wie immer für sich.

Sie folgte Sibyl, öffnete die Tür für sie und lächelte ihr völlig harmlos zu.

»Cheerio!«, flötete Mrs. Dilling und segelte durch die Tür, die Robyn ihr aufhielt, hinaus.

»Die hast du ja mal wieder um den Finger gewickelt.« Das war Marcias Kommentar. Sie hatte nur abgewartet, bis Mrs. Dilling draußen auf dem Gang war. »Konnte sie dich bis jetzt nicht nicht leiden?«

Gleichmütig zuckte Robyn die Achseln und lachte. »Du weißt, wie diese Leute sind. Besser als ich.«

»Ja, das weiß ich.« Marcia trat zu ihr. »Sollen wir etwas Besonderes vorbereiten für diese Veranstaltung? Was meinst du?«

»Nein.« Robyn schüttelte den Kopf. »Ruf einfach nur Smithers an und frag ihn, was er schon vorbereitet hat. Vielleicht können wir uns ein bisschen Arbeit sparen. Ich möchte den Auftrag so durchziehen, wie er es gemacht hätte.«

»Gut.« Marcia nickte. »Ich sage den anderen Bescheid. Keine Extras.«

»Hmhm.« Mit einem bestätigenden Blick sah Robyn sie an. »Keine Extras. Alles ganz normal.«

3

Mai in Boston.

Mariana fröstelte ein wenig, als sie das erste Mal seit vier Jahren wieder die kalte Luft spürte.

»Hey! Hey! Hier bin ich!« Wildes Winken und lautes Rufen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine Gestalt, die wie ein Hampelmann immer wieder hoch und runter sprang.

»Jackie.« Ein Lächeln schlich sich in Marianas Mundwinkel, und sie steuerte mit ihrem Gepäckkarren auf ihre Kindheitsfreundin Jacqueline zu.

»Hallo! Herzlich willkommen zu Hause!« Jackies Augen strahlten sie begeistert an, bevor sie Mariana um den Hals fiel.

Zu Hause . . . Das empfand Mariana nicht unbedingt so, obwohl sie in Boston aufgewachsen war.

Sollte ein Zuhause nicht etwas sein, in dem man sich wohlfühlte? An das man gern dachte und in das man gern zurückkehrte? Wenn das ein Zuhause war, hatte Mariana keins oder Pomona war das eher als Boston.

Aber das war nicht mehr möglich. Dorthin konnte sie nicht mehr zurück, weil ihre Ausbildung dort abgeschlossen war. Das war der Deal gewesen. Vier Jahre Freiheit in Pomona und danach Harvard, das Medizinstudium in Boston.

Kay Rivers: Diebe mit Liebe

1 »Hast du alles?« Während Mariana über ihr Bett gebeugt dastand, um ihren Koffer zu packen, wurde...
Sie stellte das Tablett auf dem niedrigen Tisch zwischen den Sesseln ab und verteilte die Sachen...
Dass sie ihre Mutter überhaupt dazu gebracht hatte, war schon fast so eine Art Wunder. Sie hatte...
Lachend schüttelte Mariana den Kopf. »In diesem Fall nicht. Ich habe mich in Pomona hauptsächlich...
»Noch mehr als bei Mrs. Dilling kann ich mir fast nicht vorstellen«, sagte Robyn. »Da sahen sie...
»Ist es nicht großartig?«, fragte sie jetzt, während sie Mariana ansah. Ihre Augen strahlten schon...
Fast wäre Mariana in Ohnmacht gefallen. Das war wieder typisch ihre Mutter! Ihr kein Wort zu sagen...
War sie jetzt unzivilisiert, weil sie es trotzdem vier Jahre lang getan hatte? fragte Mariana...
Das Ganze dauerte höchstens ein paar Minuten, dann war der Spuk vorbei. Das Licht ging wieder an....
»Aber . . . Aber . . . « Mariana stotterte ein wenig herum. »Das kann doch nicht sein. Hier kommt...
Auch das wäre schlimm für Mariana gewesen, aber sie hätte wenigstens eine Erklärung gehabt. So...
Jackie beispielsweise hätte Mariana natürlich jederzeit in ihrem Schlafzimmer empfangen können....