Jackie beispielsweise hätte Mariana natürlich jederzeit in ihrem Schlafzimmer empfangen können. Das wäre kein Problem gewesen. Sie waren Jugendfreundinnen, zusammen aufgewachsen, so etwas wie Schwestern.

Eine fremde Frau empfing man aber nicht in seinem Schlafzimmer. Wenn man zur besten Bostoner Gesellschaft gehörte, war das eine Auszeichnung, die sich jemand, der nicht dazugehörte, erst einmal verdienen musste.

Das waren altertümliche Regeln, aber es gab sie nun einmal, und Mariana hatte sich vorgenommen, so kurz nach ihrer Rückkehr keinerlei Wirbel zu verursachen. Sie wollte in Ruhe gelassen werden, ohne gleich einen Sturm im Wasserglas auszulösen.

Wahrscheinlich würde sie das ohnehin tun, wenn sie ihrer Mutter sagte, dass sie während ihres Medizinstudiums nicht im Haus ihrer Eltern wohnen wollte. Dass sie sich eine eigene Wohnung nehmen wollte, zusammen mit Jackie.

Das würde Jackie helfen und auch ihr selbst, Mariana. Außerdem würde es ihre Mutter zumindest dahingehend beruhigen, dass Mariana nicht mit einem Mann zusammenziehen wollte. Unverheiratet. Und dazu noch nicht einmal mit einem Mann wie Guy.

Dass es überhaupt kein Mann sein würde, davon ahnte ihre Mutter ohnehin noch nichts. Bei dem Verhältnis, das Mariana mit ihr hatte, hatte sie keines ihrer Geheimnisse mit ihr geteilt. Und das würde sie auch nicht, bis sie das Medizinstudium hinter sich hatte. Denn ihre Mutter brachte es glatt fertig, ihr vorher noch die nicht gerade niedrigen Studiengebühren zu verweigern.

Dann hätte Mariana dasselbe Schicksal ereilt wie Jackie, und das wäre eine Katastrophe gewesen, denn wenn sie einen Wunsch, einen Traum im Leben gehabt hatte, dann den, Ärztin zu werden. Sobald sie das war und ihr eigenes Geld verdienen würde, konnte ihre Mutter ihr nichts mehr vorschreiben, aber bis dahin . . . musste sie sich bedeckt halten.

Das war Mariana jedoch mittlerweile egal. Sie wollte niemanden verletzen oder vor den Kopf stoßen, aber wenn Onkel Adam und Tante Abigail sich darüber aufregten, was sollte das für eine Bedeutung für sie, Mariana, haben? Wenn ihre Mutter sich aufregte . . . Das hatte trotzdem immer eine Bedeutung für sie gehabt, aber damit musste sie abschließen. Endgültig abschließen.

In Windeseile war sie angezogen. Das Ballkleid von gestern Abend, das immer noch hier über einem Stuhl lag, überließ sie dem Hausmädchen. Am liebsten hätte sie es ihr geschenkt, aber sie konnte wohl nichts damit anfangen. Stattdessen würde sie es ihren Aufgaben getreu ordentlich in den Schrank hängen.

Mariana wusste, dass ihre Mutter Jeans hasste. Wenn sie überhaupt einmal ein Urteil darüber abgab, nannte sie sie Arbeiterhosen und das bedeutete für Amanda, dass kein Mensch der besseren Gesellschaft, der etwas auf sich hielt, so etwas trug. Dass Jeans schon seit langem selbst in den besten Kreisen nicht mehr verpönt waren, ignorierte sie dabei einfach.

Die besten Kreise von Boston waren nicht die besten Kreise der restlichen Welt. Die Bostoner Gesellschaft schwebte so hoch über allem, dass selbst diejenigen in anderen Städten, Ländern und Regionen, die sich als die besten Kreise betrachteten, hier nur darunter stehen konnten.

Gerade deshalb war Mariana zuerst ganz automatisch, dann mit einem leicht schadenfrohen Lächeln auf den Lippen in ihre Lieblingsjeans geschlüpft. Ihre Mutter würde sich furchtbar aufregen, wenn sie sie darin sah, doch da Mariana das erwartete, würde sie sich diesmal nicht darüber aufregen.

Sie fragte sich, was Robyn tragen würde. Heute sicher keinen Frack. Der dürfte genauso wie bald Marianas Ballkleid mittlerweile in einem Schrank verschwunden sein.

Mit jugendlichem Elan sprang Mariana die Treppe hinunter. Was auch etwas war, das ihre Mutter hasste. Denn es war nach Meinung der immer auf den Schein bedachten Mrs. Bradlee Fulton ein Benehmen, das einer jungen Dame aus gutem Hause nicht anstand.

»Wow!«

Wenn Mariana die Gepflogenheiten im Hause ihrer Mutter kannte – und das tat sie, daran hatte sich in den letzten vier Jahren sicherlich nichts geändert –, war Robyn in den Salon geführt worden, um auf sie zu warten. Aber nun stand sie am Fuße der Treppe und gab diesen bewundernden Laut von sich.

»Ich wusste, dass Ihnen nicht nur ein Ballkleid gut steht«, fügte sie noch hinzu und lächelte mit einem Ausdruck in den Augen, den Mariana nicht zum ersten Mal sah. Robyn flirtete mit ihr.

»Ein Ballkleid ist nicht das, was ich normalerweise trage«, antwortete sie und nahm zumindest für den letzten Treppenabsatz ihren Schwung etwas zurück, um Robyn nicht gleich in die Arme zu fallen.

Falls sie stolperte.

Zum Stolpern neigte sie zwar eigentlich nicht, aber sie hätte so tun können . . .

Innerlich schmunzelte sie über sich selbst. Was waren das denn für weibliche Tricks der untersten Kategorie, an die sie da dachte? Sie waren hier doch nicht in einer Seifenoper.

Deshalb begrüßte sie Robyn so gesittet wie möglich, nachdem sie unten angekommen war. »Sie wollten mich sprechen?« Wieder wanderten ihre Augenbrauen leicht nach oben wie schon zuvor in ihrem Schlafzimmer.

Damit wollte sie ausdrücken, dass sie sich gar nicht vorstellen konnte, weshalb Robyn sie sprechen wollte. Aber wenn Robyn direkt nach dem gestrigen Ball heute als Erstes hier ankam, hatte Mariana da so eine Vermutung.

»Ist heutzutage kein sehr häufiger Anblick mehr, eine Frau im Ballkleid«, setzte Robyn das Gespräch fort, indem sie an das anschloss, was Mariana zuletzt gesagt hatte. »Ich habe es nicht bereut, Sie darin zu sehen.« Sie lächelte immer noch auf diese bewundernde, aber zum Teil auch herausfordernde Art.

Marianas Mundwinkel zuckten. »Eine Frau im Frack aber noch viel weniger«, gab sie ebenfalls ein wenig herausfordernd zurück. In der Hoffnung, dass Robyn die Frage aus ihrer Feststellung heraushören würde.

Und das tat sie auch. Sie lachte. »Das mag sein. Aber ich gehöre zur arbeitenden Bevölkerung, genauso wie die Leute, die auf dem Ball bedient haben. Deshalb dachte ich, ein Kellnerfrack wäre angemessen. Denn in einem Röckchen mit Schürzchen fühle ich mich wirklich nicht wohl.« Sie schmunzelte heftig.

Das kann ich mir auch kaum vorstellen bei dir. Mariana schmunzelte auch.

Sie konnte es nicht verhindern. So wie Robyn Reardon jetzt vor ihr stand, in einer Art sportlich-elegantem Businessanzug, hätte es einiges an Fantasie gebraucht, sie in solch ein Röckchen zu stecken, selbst nur in Gedanken.

Sie ging weiter in Richtung des Salons, in dem Robyn eigentlich hätte auf sie warten sollen, es aber nicht getan hatte. »Ich war auf dem Weg ins Frühstückszimmer«, sagte sie. »Ich bin gerade erst aufgestanden.« Sie warf Robyn einen kurzen Blick zu. »Darf ich Sie zum Frühstück einladen?«

»Ich habe schon gefrühstückt«, entgegnete Robyn belustigt. »Vor Stunden. Es ist nämlich bereits Mittag.«

Ungläubig drehte Mariana den Kopf zu ihr. »So spät schon? Na ja, aber heute Nacht war es auch sehr spät«, fügte sie entschuldigend hinzu. »Oder sehr früh, wie man’s nimmt.« Sie zuckte die Schultern. »Ich bin das nicht gewöhnt.«

»Führen die Studenten in Los Angeles so ein geregeltes Leben?«, erkundigte Robyn sich tatsächlich erstaunt. »Vom Studentenleben hatte ich immer eine andere Vorstellung.«

»Wenn man eine engagierte Studentin ist, ja«, antwortete Mariana nickend. »Aber natürlich gab es auch einmal kurze Nächte. Ich habe mir das wie gesagt nur nicht zur Gewohnheit gemacht. Meistens habe ich nachts gelernt.«

Anerkennend verzog Robyn die Lippen. »Fleißig, fleißig«, sagte sie.

Ihre Stimme klang nun nicht mehr herausfordernd, nur noch auf eine Art weich, die zwar Entschlossenheit enthielt, was sehr gut zu Robyn passte, aber auch wie eine Einladung war. Eine Einladung, die Mariana fast streichelte.

Mariana hatte das Gefühl, sie musste Abstand zwischen sich und Robyn bringen, denn diese Nähe, der sie jetzt ausgesetzt war, ließ sie fast zittern.

ENDE DER FORTSETZUNG

Kay Rivers: Diebe mit Liebe

1 »Hast du alles?« Während Mariana über ihr Bett gebeugt dastand, um ihren Koffer zu packen, wurde...
Sie stellte das Tablett auf dem niedrigen Tisch zwischen den Sesseln ab und verteilte die Sachen...
Dass sie ihre Mutter überhaupt dazu gebracht hatte, war schon fast so eine Art Wunder. Sie hatte...
Lachend schüttelte Mariana den Kopf. »In diesem Fall nicht. Ich habe mich in Pomona hauptsächlich...
»Noch mehr als bei Mrs. Dilling kann ich mir fast nicht vorstellen«, sagte Robyn. »Da sahen sie...
»Ist es nicht großartig?«, fragte sie jetzt, während sie Mariana ansah. Ihre Augen strahlten schon...
Fast wäre Mariana in Ohnmacht gefallen. Das war wieder typisch ihre Mutter! Ihr kein Wort zu sagen...
War sie jetzt unzivilisiert, weil sie es trotzdem vier Jahre lang getan hatte? fragte Mariana...
Das Ganze dauerte höchstens ein paar Minuten, dann war der Spuk vorbei. Das Licht ging wieder an....
»Aber . . . Aber . . . « Mariana stotterte ein wenig herum. »Das kann doch nicht sein. Hier kommt...
Auch das wäre schlimm für Mariana gewesen, aber sie hätte wenigstens eine Erklärung gehabt. So...
Jackie beispielsweise hätte Mariana natürlich jederzeit in ihrem Schlafzimmer empfangen können....